: Strahlender Feind
„Für mich ist Tschernobyl das wahre Symbol des Endes der Sowjetunion“: „Nahaufnahme“, die Bilder des moldawischen Fotoreporters Igor Kostin über das Reaktorunglück in Tschernobyl und die Folgen
von GERRIT BARTELS
Als Igor Kostin am Morgen des 26. April 1986 in Kiew durch das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen wird, ist er nicht weiter überrascht. Als Fotoreporter für die russische Presseagentur Nowosti ist er das gewohnt. Er denkt sich auch nicht viel dabei, als der Anrufer sagt: „Igor, im Kernkraftwerk Tschernobyl hat es heute Nacht gebrannt.“
Doch es ist dies der Tag, der das Leben des 1936 in den Weinbergen Moldawiens geborenen Igor Kostin so entscheidend beeinflussen wird, dass er später sagt: „Diese Katastrophe hat meine Werte gewandelt. Sie hat mich gereinigt, geläutert. Nach Tschernobyl war ich wie neugeboren.“
Das klingt pathetisch, aber der jetzt im Kunstmann Verlag erschienene Fotoband „Nahaufnahme“ (unter Mitarbeit von Thomas Johnson, übersetzt von Claudia Kalscheuer, 240 S., 24,90 €) dokumentiert, dass sich Kostin mit der Tschernobyl-Katastrophe bis zum heutigen Tag beschäftigt hat. Kostin macht seine ersten Bilder am Tag des Unglücks aus dem Hubschrauber heraus. Schon nach wenigen Minuten blockiert seine Kamera. Die zwanzig Fotos, die er schießt, sind alle schwarz, als er sie entwickeln will – bis auf eines, das erste, das wohl durch die Spule geschützt war. Es ist dieses das einzige existierende Foto vom Tag des Unfalls selbst. Ansonsten bleibt Kostin die Erinnerung: „Das Dach des vierten Reaktors, eine 3.000 Tonnen schwere Stahlbetonplatte, ist von der Explosion weggerissen worden, umgeklappt wie ein Pfannkuchen. Auf dem Grund der Ruinen erkennt man nur schwach den rötlichen Schein des schmelzenden Reaktorkerns.“ Kostin reist in der Folge regelmäßig nach Tschernobyl. Er beobachtet die „Liquidatoren“, die radioaktiven Schutt wegräumen, dokumentiert den Bau des Sarkophags, und er kommentiert in „Nahaufnahme“ mit seinen Bildern und mehreren Texten den „totalen Krieg im Kampf gegen den Feind Radioaktivität“.
Kostin beklagt den „potemkinschen Prozess“, der ein Jahr später gegen die vermeintlichen Verantwortlichen der Katastrophe geführt wird, er prangert das Schweigen und Vertuschen des Gorbatschow-Regimes an – er schickt auch Fotos von mutierten Tieren an Gorbatschow, ohne je eine Reaktion zu bekommen – und er macht Aufnahmen von der nach dem Reaktorunglück im doppelten Wortsinn strahlenden Natur. Einige Jahre später erkennt er, dass Tschernobyl den Zusammenbruch des Sowjetregimes beschleunigt hat: „Mehr noch als der Fall der Berliner Mauer ist für mich Tschernobyl das wahre Symbol des Endes der Sowjetunion.“