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Archiv-Artikel

Die Kunst, goldene Haufen zu scheißen

ES LEBE DER UNTERSCHIED Auf anregende Weise bringt die Doppelausstellung „Double Sexus“ in der Sammlung Scharf-Gerstenberg die Körperkunstexperten Hans Bellmer und Louise Bourgeois miteinander ins Gespräch

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Nichts anderes ist uns so nah wie das, was durch den Körper hindurchgeht. Und doch haben wir kaum einen Begriff, der mit Zärtlichkeit zu benennen vermag, was den Körper wieder verlässt. Nur in der Kunst gibt es Formen und Bilder, die eine Annäherung daran sind. Zum Beispiel der vielgestaltige, goldplatinierte Haufen aus Bronze, dem Louise Bourgeois 1967 den Titel „End of Softness“ gab.

Die pädagogische Bewegung, die im verklemmten Umgang mit den eigenen Exkrementen ein Symptom für das gestörte Verhältnis zum eigenen Körper ausmachen sollte, war da noch nicht groß im Gespräch. „End of Softness“ fasst die amorphe Masse, kurz bevor sie zu zerlaufen droht. Je näher man die Erhebungen und Vertiefungen betrachtet, desto mehr Faltungen entdeckt man, die geformt sind wie durstige Münder und bedürftige Vulvas. Die Verquickung von Innen und Außen des Körpers nimmt so in dieser Skulptur Gestalt an, die Teil der Louise Bourgeois und Hans Bellmer gewidmeten Doppelausstellung „Double Sexus“ in der Sammlung Scharf-Gerstenberg ist.

Treffen zweier Legenden

Dass die Surrealisten-Dependance der Neuen Nationalgalerie, die 2008 in Charlottenburg eröffnet wurde, ihre erste Sonderausstellung gerade dieser Gegenüberstellung widmet, ist geschickt, erweitern doch beide Künstler das Einzugsgebiet der am Surrealismus Interessierten. Hans Bellmer (1902 bis 1975) ist mit seinen pornografisch inszenierten Fotografien von Frauen und verdrehten Puppenkörpern seit seinem Bekanntwerden in den Sechzigerjahren immer wieder Gegenstand ästhetischer, psychologischer und philosophischer Studien, zumal er George Batailles „Geschichte des Auges“ Bilder zur Seite stellte. Louise Bourgeois, 1911 in Paris geboren, wurde zwar erst im Alter von fast siebzig Jahren international bekannt, dann aber sozusagen rückwirkend entdeckt als eine Künstlerin, die kämpfen musste, um aus dem Schatten der sie umgebenden Männer (Väter, Ehemänner) herauszukommen – schon dafür wurde sie zu einer feministischen Legende.

Die Ausstellung spannt die beiden in einen anregenden Dialog. Beide nutzen Phalli, Brüste und Vulvas als Formen, die ein nie endendes Potenzial der Wandelbarkeit, auch der Transformation ins Doppelgeschlechtliche auszeichnet. Beide beherrschen das Spiel mit dem Offenen und dem Verborgenen. Beide arbeiten mit Puppen und anderen Stellvertretern des Körpers, die nicht nur Objekte des Begehrens sind, sondern auch einen distanzierten, fast spöttischen Blick zurückwerfen auf die Erfinder der Szenarien, in denen sie eingesetzt werden.

Doch weil das Vergleichbare so offen vor Augen liegt, entsteht das Bedürfnis, die Unterschiede zu betonen, ohne sie auf einen weiblichen und männlichen Blick zu verkürzen. Hans Bellmer, der 1938 in Deutschland als entarteter Künstler diffamiert worden war und nach Paris emigrierte, stand dort dem Kreis der Surrealisten nahe. Dennoch war sein Kunst lange keine öffentliche Sache. Schon die Kleinformatigkeit der Fotografien zeichnet sie als heimlich zugeschobene Requisiten einer Leidenschaft aus, die nicht öffentlich war. Diese Bewegung auf verengtem Raum ist auch zeithistorisch und politisch bedingt, das Normverletzende der Bildsprache Bellmers wurde als Aufbegehren gegen Ordnungsmächte gelesen. Dennoch kommt er thematisch aus einer Verengung, die von Fetischisierung und Wiederholungszwang geprägt ist, nicht heraus. Sein Werk erzählt daher auch vom Gefangensein, vom Leiden an seiner Begrenztheit.

Welten wachsen

Bei Louise Bourgeois hingegen sind in ihrem freilich auch viel längeren Leben ästhetisch und inhaltlich mehr Ausweitungen zu beobachten. Was Körper ist, verwandelt sich beispielsweise in Landschaft; aus einer rosafarbenen Spalte, die aufklappt wie ein Riss in der Erde, wachsen Brüste wie historische Sedimentschichten hervor („Mamelles“, 1991). Zudem hat man nicht selten das Gefühl, sie gehe in der Gegenüberstellung augenzwinkernd auf Bellmers Arbeiten ein.

Das freilich ist das Ergebnis der Ausstellungsinszenierung, an der Bourgeois, 98-jährig, von New York aus Anteil nahm. Sie und Bellmer sind sich nicht begegnet, es ist eine nachträgliche Verknüpfung, die eines unterschlägt: In der Zeit, in der Bellmer arbeitete, wimmelte die Kunst von puppenbesetzten Szenarien, von Fragmentierungen und Destruktionen des Menschenbilds, Max Ernst, Oscar Schlemmer, Fernand Leger, Hannah Höch seien hier nur als herausragend genannt. Das Werk von Louise Bourgeois, die 1938 von Paris mit ihrem Mann nach New York zog, entstand erst ab den 60er-Jahren, und das ständige Vergleichen mit den Surrealisten belegte sie zeitweise mit dem Makel des Epigonalen. Erst in den 80er-Jahren befreite sie eine große Retrospektive im Museum of Modern Art von diesem Ruf. Dass sie sich nun so gelassen in diese Gesellschaft begeben kann, zeigt ihre Souveränität.

■ Bis 15. August in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schloßstr. 70, Di.–So. 10–18 Uhr, Katalog (Distanz-Verlag) 35 €