piwik no script img

Archiv-Artikel

Nazis sind kein Ostproblem

Bei der Erregung über den Mordversuch in Potsdam gerät aus dem Blick, dass sich rechtsextreme Strukturen längst in der gesamten Bundesrepublik etabliert haben

Opferprojekte und Mobile Beratungsteams haben zu einem Wandel der Wahrnehmung beigetragen

Das letzte „politisch rechts motivierte Tötungsdelikt“, wie es in der Sprache der Sicherheitsbehörden heißt, ereignete sich vor einem knappen Jahr. Am 28. März 2005 wurde Thomas S., den seine Freunde „Schmuddel“ nannten, am belebten Dortmunder Hauptbahnhof von einem 17-jährigen Naziskinhead mit mehreren Messerstichen getötet.

Kein Regierungsvertreter fand damals Worte der Anteilnahme für die Hinterbliebenen des dreifachen Vaters. Auch die Medien nahmen kaum Notiz: Der Mord an dem unbewaffneten, schmächtigen Punk passte nicht in das gängige Opferklischee. Und: Thomas S.’ Tod fiel in eine Phase, in der die überregionalen Medien – nach dem NPD-Wahlerfolg in Sachsen ein halbes Jahr zuvor – die extreme Rechte klar im Osten verortet hatten.

Das Opfer in Dortmund passte nicht in dieses Wahrnehmungsraster. Das spiegelte sich auch im Urteil des Landgerichts Dortmund wider: Dessen Richter mochten kein politisches Motiv erkennen, sondern lediglich das Fehlverhalten „eines reifeverzögerten 17-Jährigen“. Dem entsprechend erkannte die Kammer auf Totschlag statt auf Mord.

Eine derart einseitige Wahrnehmung verschleiert, dass rechte Gewalt ein gesamtdeutsches Problem ist. Stets lieferten dabei die aktuellen politischen Diskurse die Begleitmusik zu Mord und Totschlag: Immer dann, wenn bei den Debatten um Asyl, Einwanderung oder Integration implizit auch die Frage nach dem Wert von Menschen gestellt wurde, stieg die Zahl brutaler und auch tödlicher Gewalttaten von rechts. Am deutlichsten wurde dies 1992/1993, als die tagelangen Angriffe und Brandanschläge auf Flüchtlingsheime und Wohnheime von Vertragsarbeitern zeitlich mit der Debatte um das Grundrecht auf Asyl zusammenfielen, und „Das Boot ist voll“-Parolen auch im Bundestag zu vernehmen waren.

Neonazis, die sich als verlängerter Arm der Stammtische begreifen, unterscheiden aber nicht zwischen „Ausländern, die uns nützen“ (Kurt Beckstein), und Asylbewerbern, die bis zur Abschiebung lediglich geduldet werden. Wer in den vergangenen Wochen die „Integrationsdebatte“ mit ihren vielen Forderungen nach „Einsperren, Abschieben, Aussperren“ verfolgte, der konnte sich ein wenig an die frühen Neunzigerjahre erinnert fühlen. Da war es nur noch eine Frage der Zeit, „bis wieder die Mollis fliegen werden“, wie es ein afrodeutscher Freund formulierte.

Doch es gibt heute einige markante Unterschiede zu den Anfangsjahren des militanten Neonazismus. Zum einen in der Reaktion auf die Angriffe: Damals gingen Hunderttausende in Ost und West auf die Straße, um gegen rechten Terror, aber auch gegen Ausgrenzungsrhetorik zu demonstrieren. Zudem glaubten viele, die rechte Gewalt sei eine Folge von Wende- und Abstiegsängsten, würde sich bald erledigen und sei bis dahin am besten mit staatlicher Repression zu beantworten.

Mit diesem einfachen Erklärungsmuster verlor man zwischen 1990 und 2000 zehn entscheidende Jahre: Zeit genug für die extreme Rechte, Organisationsverbote durch alltagskulturelle Durchdringung zu unterlaufen und Erlebniswelten zu schaffen, die auf Jugendliche und junge Erwachsenen nicht nur in den ländlichen Regionen des Ostens eine erhebliche Anziehungskraft ausüben – aber auch Anpassungsdruck auf alle, die nicht rechts sein wollen, auszuüben. Das Ergebnis ist eine modernisierte Rechte, die vielerorts selbstbewusst kulturelle Hegemonie ausübt und jeden öffentlichen Raum besetzt, der ihr von desinteressierten, ignoranten oder überforderten Kommunalpolitikern und der Zivilgesellschaft überlassen wird.

Es gibt aber noch einen Unterschied zu den frühen Neunzigerjahren: Heute leben in den meisten neuen Bundesländern weniger Menschen nichtdeutscher Herkunft als noch vor zehn Jahren. Hier existiert noch nicht einmal eine Ahnung von der „blauäugigen Multikulti-Gesellschaft“, die Edmund Stoiber so beklagt. Die meisten rassistischen Gewalttaten finden hier in aller Öffentlichkeit, an Haltestellen und in Bussen und Bahnen statt. Auch die Zahl der rassistisch motivierten Brandanschläge auf vietnamesische Imbisse und Dönerläden ist in den letzten Jahren erheblich angestiegen.

Doch anders als in den frühen Neunzigerjahren können sich die potenziellen Opfer nicht mehr der uneingeschränkten Solidarität aus linken, liberalen und bürgerlichen Kreisen sicher sein. Die enttäuschte Abkehr auch der rot-grünen Klientel vom „naiven Multikulturalismus“ und der alles dominierende Sicherheitsdiskurs nach den Anschlägen des 11. September 2001 haben die potenziellen Opfer rechter Gewalt allzu oft allein gelassen. Dabei wissen alle, dass die Opfer bewusst als Vertreter einer stigmatisierten Gruppe ausgesucht und angegriffen werden und jeder individuelle Angriff eine klare Drohbotschaft an die gesamte Gruppe sendet.

Ein politischer Paradigmenwechsel setzte erst ein, nachdem der Mosambikaner Alberto Adriano an Pfingsten 2000 durch drei Neonazis im Stadtpark von Dessau ermordet und ein Bombenanschlag auf eine Gruppe jüdischer Kontingentflüchtlinge in Düsseldorf verübt wurde, der bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Seit 2001 werden etwa Opferberatungsprojekte und Mobile Beratungsteams gegen Rechtsextremismus durch das Bundesfamilienministerium und dessen Modellprogramm „Civitas – initiativ gegen Rechtsextremismus“ gefördert.

Der Erfolg der Projekte lässt sich statistisch nicht messen – aber sie haben zu einem Wandel der Wahrnehmung beigetragen: Opfer rechter Gewalt in den neuen Bundesländern haben nun erstmals Anlaufstellen, die sie ernst nehmen und manchmal jahrelang und durch mehrere Instanzen vor Gericht begleiten. Zudem finden Kommunen, die sich dem Problem des Rechtsextremismus stellen wollen, nun kompetente Ansprechpartner. Nicht zuletzt sind durch die unabhängigen Statistiken der Opferberatungsprojekte auch die polizeilichen Statistiken genauer geworden.

Heute leben in den neuen Ländern weniger Menschen nichtdeutscher Herkunft als vor zehn Jahren

Niemand kann also sagen, das Problem sei nicht bekannt. Und noch weniger kann behauptet werden, eine baldige Besserung sei in Sicht. Im Gegenteil: In Mecklenburg-Vorpommern steht die NPD vor dem Sprung in den Landtag. Doch die Bundesregierung lässt die Opfer rechter Gewalt – allen Sonntagsreden zum Trotz – im Stich. Ende 2006 soll die Förderung für Opferberatungen und Mobile Beratungsteams auslaufen. Eine Weiterförderung dieser Projekte sehen die Pläne des Bundesfamilienministeriums nicht vor.

Dabei ist klar, dass gegen Rechtsextremismus nur ein Bündel von Maßnahmen Erfolg haben kann. Dazu gehört die Weiterfinanzierung der bestehenden Projekte ebenso selbstverständlich wie ein Ende einer Integrationsdebatte, die immer wieder in rassistische und kulturalistische Verallgemeinerungen zurückfällt. Das langfristige Ziel muss im Gegenteil sein, endlich die deutsche Mehrheitsgesellschaft integrationsfähig zu machen.

HEIKE KLEFFNER