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Archiv-Artikel

„Ich habe viel Zeit“

HAUSBESUCH Er ist Schauspieler und hat wenig Geld, aber immer gute Laune. Bei Wolfgang Grossmann in Berlin

VON SIMONE SCHMOLLACK (TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Eine laute Durchgangsstraße in Berlin-Mitte mit Cafés und Kneipen, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in der Nähe liegen prominente Künstler und Schriftsteller. Wolfgang Grossmann, 57, wohnt hier seit sieben Jahren.

Draußen: Schmale Toreinfahrt, kleiner Hof, die Sonne kommt hier nicht hin. Grauer Putz an der Fassade des fünfstöckigen Hauses, auf einer Fensterbank ein Blumenkasten. „Schön ruhig, der Krach von der Straße bleibt draußen.“

Drin: Seitenflügel, dritte Etage, ein Zimmer, Küche, schmales Bad. Der Flur ist fünf Quadratmeter groß, hier sind zwei Plattenspieler aufgebaut, Verstärker, Boxen, Licht: „Der kleinste Klub Berlins.“ An den Wänden Plattencover und Fotos von Marilyn Monroe, Keith Richards, John Lennon, Manfred Krug, Arno Schmidt, „meine Götter“. Autogramme von Penélope Cruz, Wim Wenders, Rio Reiser und dem DDR-Entertainer Lutz Jahoda. Dazwischen „eine Kunstinstallation“: Spielzeugpanzer, übereinandergestapelt in einem Glaskasten. Titel: Femininer Fürstenzug. Im Zimmer ein Hochbett, vier Arbeitsspinde voller Schallplatten, ein kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen. „Mehr brauche ich nicht.“ An der Wand hängt ein Setzkasten mit Kleinodien und einem Foto seines Vaters, der vor sechs Jahren gestorben ist.

Was macht er? Als Schauspieler hat er seit Jahren kein festes Engagement und spielt alle Rollen, die ihm angeboten werden: Im Sommer war er am Theater Greifswald der Barmixer Charly in „Keine Leute, keine Leute“, ein Lustspiel von Rudi Strahl. Und in Neustrelitz im „Kaukasischen Kreidekreis“ von Brecht der Arzt, ein Panzerreiter, ein Hochzeitsgast und ein Großbauer. In Fernsehfilmen hat er winzige Rollen, zuletzt die eines Bahnpolizisten in „Der Turm“. Für Kinofilme arbeitet er als Statist, zum Beispiel in „The Ghost Writer“ von Roman Polanski und „Zweiohrküken“ von Til Schweiger. Damit verdient er kaum Geld. „Aber es reicht zum Leben. Ich habe keine großen Ansprüche.“

Was denkt er? „Ich habe mir abgewöhnt, schlechte Laune zu haben. Die Welt und mein Leben werden nicht besser, wenn ich andere und mich selbst mit Übellaunigkeit belästige.“ Außerdem habe man einfach mehr Chancen, wenn man fröhlich sei. Bewusst gute Laune zu haben, könne man trainieren. „Wenn Leute um mich herum klagen und wehleiden, dann stehe ich auf und gehe woanders hin. Ich sage mir: Alles halb so schlimm.“ Eine wunderbare Psychohygiene sei es auch, wenn er im Seniorenheim zum Tanztee Platten auflege. „Die Alten hören Musik aus ihrer Jugend und freuen sich wahnsinnig darüber. Sie singen mit und wünschen sich manchmal Lieder, von denen ich noch nie gehört habe. Dann nicke ich, suche in der ganzen Stadt nach einer Platte, auf der das Lied drauf ist. Wenn ich die dann beim nächsten Mal auflege, sind manche der Alten zu Tränen gerührt. Und das rührt wiederum mich.“

Wolfgang Grossmann: Geboren und aufgewachsen in Dresden, studierte zuerst Journalistik in Leipzig und anschließend Schauspiel in Ostberlin. Engagements in Dresden, Eisleben und Anklam, außerdem war er Schlagzeuger der Punkband „Zwitschermaschine“. 1986 kam er von einer Westreise nicht mehr zurück in die DDR. Er spielte Theater in Hamburg, Westberlin, Osnabrück, München, Braunschweig, Köln. Hatte kleine Auftritte in der „Lindenstraße“ und in „Familie Heinz Becker“. Zur Jahrtausendwende hat sein Vater einen Schlaganfall, die Ärzte sagen, er lebe noch ein halbes Jahr. Grossmann beschließt, seinen Vater zu pflegen. „Die Zeit schenke ich ihm.“ Es werden fünf Jahre Intensivpflege – und Grossmann verliert den Anschluss in seiner Branche.

Das letzte Date: Er fragt oft Frauen, ob sie mit ihm Kaffee trinken gehen oder einen Wein. In letzter Zeit hat er aber nur Absagen bekommen, viele Frauen wollen keinen Mann ohne Geld. „Bei den Frauen, die mir gefallen, habe ich zurzeit keine Chance. Deshalb hatte ich in diesem Jahr leider noch kein einziges Date.“

Einsam? „Nö.“ Er hat ein paar gute Freunde, die er regelmäßig trifft. „Aber ich komme auch prima mit mir allein zurecht.“

Der Alltag: Er steht auf, wenn er ausgeschlafen ist, das kann gegen 7 Uhr sein oder gegen 10. Dann kocht er sich einen Kaffee, checkt seine Mails und sucht im Netz nach Jobs. Eine Stunde später geht er ins Café in seiner Straße und liest vier Tageszeitungen, darunter die taz. Danach schlendert er zurück nach Hause, lernt Texte oder bereitet die nächste Show im Altersheim vor. Oder er läuft durch die Stadt. „Ich nenne es Stadtwandern“: Ausstellungen sehen, Häuser anschauen, Freunde besuchen. „Ich habe viel Zeit.“ Manchmal geht er abends zu Vernissagen und zu Filmempfängen. „Man trifft Leute, und Freibier gibt es auch.“

Wie finden Sie Merkel? „Die CDU und Frau Merkel setzen mir zu stark auf Erhalt, alles soll so bleiben, wie es ist. Das ist das Konservative der Partei und der Kanzlerin, klar. Aber mir fehlt eine Vision, wie das Leben in 50 Jahren aussehen soll. Zurzeit hat keine Partei dazu eine Idee.“

Wann sind Sie glücklich? „Ich bin glücklich in Berlin.“ Die Farben und der Sound der Stadt, die Blicke der Menschen stimmen ihn froh. Im Sommer musste er immer mal wieder in die Provinz, diese Leere dort hat ihn frustriert. „Früher gab es Zeiten, in denen ich richtig unglücklich war, immer wenn Beziehungen auseinandergingen. Momentan bin ich rundum zufrieden.“

Nächstes Mal treffen wir Jimi, Layla und Assunta Tammelleo und Wolf Steinberger in Wolfratshausen. Wenn Sie auch einmal besucht werden möchten, mailen Sie an hausbesuch@taz.de