„Stigmatisierung vermeiden“

Gewaltforscher Heitmeyer diskutiert mit Bremern über Vorfälle in der Innenstadt

„Entsteht in unseren Stadtteilen eine Kultur der Gewalt?“ lautet die Frage für den heutigen Abend der Reihe „Das Viertel isst“. Die Fakten liefert Bremen mit Gewalttaten auf der Diskomeile und in der Bahnhofsvorstadt, die Thesen der Bielefelder Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer.

taz: Was passiert heute Abend?

Professor Wilhelm Heitmeyer: Wir wollen debattieren, ob wir die Probleme, die hinter den Gewaltvorfällen in der Innenstadt stehen, angemessen beschreiben können. Wir wollen mögliche Ursachenmuster für Gruppenauseinandersetzungen suchen.

Sie würden von Bremen vielleicht lernen können?

Ich bin mit den Geschehnissen in Bremen natürlich nicht vertraut. Ich kann die Problematik nur aufgrund unserer Untersuchungen allgemein darstellen. Die Bremer Spezifika müssen dann damit konfrontiert werden.

Die werden hier vor allem als Problem organisierter Kriminalität gesehen. Können Sie, auch aus der Ferne, einschätzen, ob mehr dahinter steckt?

Generell kann ich etwas über die Integrationsqualität dieser Gesellschaft sagen und über die Folgen, wenn die Desintegration weiter voranschreitet, Segregation oder sozial räumliche Verdichtung sich ausbreiten, und wenn es in bestimmten Räumen zur Veränderung der Bevölkerungsrelation kommt. Diese Dinge muss man zusammendenken, nicht separieren und schon gar nicht mit Schuldzuweisungen arbeiten. Die Stadtgesellschaft muss sich überlegen, wie sie dem einen Rahmen geben kann.

Die Bremer Polizei hat in einem „Lagebild“ erstmals Faktoren wie Migration, Bildung, Armut in Zusammenhang mit Kriminalität gebracht. Indem hier Bezüge festgestellt werden, findet zugleich Stigmatisierung statt. Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Man muss etwas tun und zugleich Stigmatisierung vermeiden. Jede Art von Generalisierung ist von Übel, aber gleichzeitig darf man einzelne Zusammenhänge nicht übersehen. Der einzelne Polizist kann jenseits von individuellen Kontrollen wenig reißen – das ist Sache von Stadt- und Sozialpolitik. Und auch von Elternpolitik: In vielen Familien fällt die frühere soziale Kontrolle weg. Das hat damit zu tun, dass Lebensrhythmen aus dem Ruder gelaufen sind.

Der Bundesinnenminister hat die Gewalttat gegen einen Deutschen afrikanischer Herkunft in Potsdam relativiert. Wie beurteilen Sie das?

Indem Schäuble regelrecht die eine Brutalität gegen mögliche andere aufrechnet, trägt auch er zur Legitimation von Gewalt bei. Jede Art von wechselseitigem Aufrechnen ist einfach nicht in Ordnung. Man muss sich mit jedem Einzelfall konkret auseinander setzen. Jedes Opfer ist traumatisiert, ganz gleich welcher Haut- und Augenfarbe. Int.: sgi

„Das Viertel isst“, 19 Uhr, Friedenskirche in der Humboldtstraße