: Kein einziger falscher Ton
Zwei Theaterinszenierungen fesseln das jugendliche Publikum, gerade weil sie keine Zugeständnisse an die Fernsehästhetik machen: „Die Kindertransporte“ in der Regie von Hans-Werner Kroesinger, „Herons – Reiher“ in der Regie von Anna Zimmer
VON CHRISTINE WAHL
Erlaubtes Maximalgewicht: zehn Kilo. Mit einem Gepäckstück von dementsprechend überschaubarer Größe sitzen vier Menschen auf der Bühne und spielen „Ich packe meinen Koffer“. Eva ist augenscheinlich praktisch veranlagt und denkt zuerst an ihre Schuhe, während Lydia einen frühen Hang zum Müßiggang erkennen lässt und „Brettspiel“ sagt. Fritz löst mit seinem Bekenntnis zum Marzipanschwein Irritation aus. Und für Caspar ist das Allerwichtigste seine Badehose – obwohl er schon seit einer Ewigkeit in Berlin nicht mehr schwimmen gehen durfte.
Caspar, Eva, Lydia und Fritz gehören zu den 196 jüdischen Kindern, die im November 1938 mit dem ersten Kindertransport vom Schlesischen Bahnhof aus nach Großbritannien ausreisten. Regisseur Hans-Werner Kroesinger konfrontiert im Theater an der Parkaue Zuschauer von zehn bis fünfzehn Jahren mit dem Schicksal der etwa 10.000 Kinder und Jugendlichen, für deren zeitweilige Aufnahme die britische Regierung nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 ihre Grenzen öffnete. Kroesinger ist eine wichtige Figur im zeitgenössischen deutschsprachigen Dokumentartheater – seine Projekte zum Deutschen Herbst, zum Kosovo-Krieg, zur südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission oder zur Bombardierung Dresdens waren vor allem deshalb zeitgemäß, weil sie nicht der Illusion einer historischen Wahrheit erlagen, sondern durch die kluge Konfrontation verschiedener Perspektiven den Blick für die Mechanismen schärften, nach denen so etwas wie Wahrheit erst konstruiert wird.
„Die Kindertransporte“ ist Kroesingers erste Arbeit im Kinder- und Jugendtheater. Und: Er ist nicht von seinem Anspruch abgerückt, hat keine falsch verstandenen Jugendlichkeitszugeständnisse gemacht. Die Zuschauer erfahren, dass die Kinder auch in England mit antisemitischen Vorurteilen konfrontiert waren; dass die Ankunft in London mit der Demütigung einer Besichtigungssituation einherging, wo wohlmeinende Pflegeeltern sich die hübschesten Flüchtlingskinder aussuchten, während die Pummeligen und Pickligen stundenlang sitzen blieben.
Dass Kroesinger jenen peinigenden Pseudo-Teenie-Jargon, mit dem in die Jahre gekommene Jugendtheaterregisseure gern krachledern an der Zielgruppe vorbeischießen, einfach vermeidet, hat etwas Wohltuendes. Ebenso wie die Entscheidung, dass die erwachsenen Schauspieler hier nicht unter Aufbietung sämtlicher Zappelphilipp-, Knatsch- und Kulleraugen-Ressourcen Kinder imitieren müssen: Hier stehen Erwachsene auf der Bühne, die sich an ihre Kindheit erinnern. Was Kroesingers Inszenierung so groß macht, ist, dass er das Theater nicht an die Fernsehästhetik verrät, sondern auf dessen Charakteristika – die vergleichsweise Langsamkeit, die genretypischen Übersetzungs- und Verdichtungsprozesse und die Textzentriertheit – vertraut.
Ähnliches gilt auch für die Inszenierung „Herons – Reiher“ am Jungen Schlossplatztheater. In Simon Stephens’ Gegenwartsstück über Gewalt unter Jugendlichen sagen Teenager ganz beiläufig Sätze wie: „Manchmal wünsch’ ich mir, ich wär’ noch in der Grundschule. Da bin ich immer gerne hingegangen.“ Und halbwüchsige Jungs waschen ihren Vätern die Klamotten und legen ihnen morgens frische Hemden heraus, damit sie nicht schweißstinkend zur Wohnungsbesichtigung oder beim Arbeitsamt erscheinen. Es ist ein Riesenverdienst des britischen Dramatikers, dass keine seiner Figuren unter Sozialkitschverdacht fällt. Und es ist eine Riesenleistung des jungen Schlossplatztheaters unter der Regie von Anna Zimmer, „Herons – Reiher“ genau so unpathetisch und differenziert auf die Bühne gebracht zu haben.
Gespielt wird in einer unsanierten Fabrikhalle in Oberschöneweide. Ohne Bühnenzauber und Requisiten entfaltet sich das Geschehen auf einer Multifunktionstreppe. Zimmer vertraut ausschließlich auf die Fähigkeiten ihrer Darsteller – was umso mutiger ist, als hier fast ausschließlich Nonprofis auf der Bühne stehen. Die Jugendrollen hat sie altersgerecht besetzt, die Darsteller unter vierzig berlinweiten Schauspieltalenten ausgewählt. Das Resultat ist absolut überzeugend. Vom sensiblen Billy (Eric Golub) über den gewaltbereiten Alpha-Boy Scott (Jakob Plutte) bis zu seiner zweifelnden Freundin Adele (Christina Gatterer): kein einziger falscher Ton.
Bei beiden Premieren zeigten die jugendlichen Zuschauer weder Ermüdungs- noch Überforderungssymptome. Das gibt Regisseuren wie Kroesinger und Zimmer gegenüber denjenigen in der Branche Recht, die unermüdlich das Niveau herunterschrauben.
„Die Kindertransporte“: Theater an der Parkaue, 26. 4. & 16. 5. (jew. 10 & 18 Uhr), 15. 5., 18 Uhr„Herons – Reiher“: Kultur-Kantine, Wilhelminenhofstr. 83–85, 26./27. 4., 10./11. 5., jew. 18 Uhr und 28./29. 4., 12./13. 5., jew. 20 Uhr