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Archiv-Artikel

Eine Nacht, viele Versionen

„Selbstbezichtigung“, „Notstands-Masochismus“, „nationales Bekenntnisritual“? Was ist dran am Vorwurf, der Potsdamer Überfall sei vorschnell zum fremdenfeindlichen Verbrechen „hochstilisiert“ worden? Ein erster Rückblick

Vielleicht müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass der Tatverlauf und seine Auslegung im Detail umstritten bleiben könnten

VON ASTRID GEISLER

Am Ostermontag schien alles ganz klar. Die Potsdamer Polizei ging an die Presse, Nachrichtenagenturen verbreiteten eine kurze, schlechte Neuigkeit: In Potsdam sei ein 37-jähriger Deutscher äthiopischer Herkunft von zwei Unbekannten angegriffen und lebensgefährlich verletzt worden. Die Tat habe nach Angaben der Polizei einen fremdenfeindlichen Hintergrund. Auch die taz meldete am nächsten Morgen: „Rassistischer Mordversuch in Potsdam“

Gut eine Woche ist das her. Inzwischen hat die Deutsche Presse-Agentur einen Bericht mit dem Titel „Fall Potsdam: Rassismusvorwurf gerät ins Wanken“ über den Draht geschickt. Zahlreiche Medien berichten über Zweifel an der ursprünglichen Version. Hat „deutscher Alarmismus“, eine „Mischung aus Selbstbezichtigung und Notstands-Masochismus“ den Umgang mit dem Fall Ermyas M. bestimmt, wie die Welt beklagt? Ein genauerer Rückblick lohnt.

Es war Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU), der sich noch am Ostermontag öffentlich den Ermittlern anschloss und seine Empörung kund tat: „Wir dulden in diesem Lande nicht, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder politischen Haltung von Extremisten verfolgt, zusammengeschlagen oder gar ermordet werden.“ Inzwischen brandmarkt Schönbohm ebenjene, die von einer fremdenfeindlichen Tat sprechen: „Ich vertrete die Auffassung: erst den Sachverhalt klären und dann bewerten. Viele haben eine Bewertung vorgenommen, ohne den Sachverhalt zu klären.“

Was ist passiert in der Zwischenzeit? Am Dienstag nach Ostern zog Generalbundesanwalt Kay Nehm die Ermittlungen an sich – zum Missvergnügen Schönbohms. Am Mittwoch äußerte der Innenminister erstmals öffentlich Zweifel an der ursprünglichen Interpretation des Falls. Nehm indes blieb bei seiner Ansicht, es gebe „erhebliche Verdachtsmomente“ für eine von „Ausländerhass“ und einer rechtsextremistischen Gesinnung motivierten Tat.

Am vergangenen Wochenende dann tauchten zunächst in der Märkischen Allgemeinen (MAZ), in der Bild am Sonntag (BamS) sowie im Spiegel neue Informationen über die Vorgänge in der Tatnacht auf, die geeignet waren, Schönbohms Zweifel an Nehms Version zu untermauern. „Gut und Böse wirkten so eindeutig verteilt“, bemerkte der Spiegel vorsichtig, aber „trotz der eiligen Verhaftungen bleiben noch Fragen offen“. Die BamS fragte in roten Lettern: „Doch kein rechtsradikaler Hintergrund?“

Seither erscheinen täglich neue Berichte über das, was wirklich passiert sein soll. Die Artikel haben zwei Gemeinsamkeiten. Erstens drehen sie sich um die Frage, ob der schwarze Wissenschaftler nicht Opfer eines rassistischen Überfalls wurde, sondern einer zufälligen Schlägerei unter Betrunkenen. Zweitens basieren sie alle auf Informationen aus anonymen Quellen.

Mal heißt es lapidar „nach Informationen der MAZ“, der Spiegel beruft sich auf „Kenner der Ermittlungsakten“, die Süddeutsche Zeitung zitiert mal „Ermittlerkreise“, mal „die Polizei“. Offiziell bestätigen will diese unter dem Tisch verbreiteten Informationen niemand, keiner will Widersprüche ausräumen.

Wer sich den Spaß macht und in der Pressestelle des Potsdamer Polizeipräsidiums anruft, erfährt von der Sprecherin: „Die Ermittlungen werden zwar in der Tat in Potsdam geführt. Die Pressehoheit hat sich aber Herr Nehm vorbehalten.“ Daher dürfe sie sich zu den verbreiteten Informationen nicht äußern, entschuldigt die Beamtin.

Klar ist: Wer auch immer die Informationen streut, setzt damit den Generalbundesanwalt unter Druck. Die Ermittlungen würden noch „eine gewisse Zeit“ in Anspruch nehmen, bremste dessen Sprecherin inzwischen. Die genaue Rekonstruktion des Tathergangs sei Teil der Ermittlungen, die nicht öffentlich erörtert werden könnten.

So steht inzwischen ein Potpourri aus Informationen über die Tatnacht im Raum. Informationen, die, unterschiedlich gemixt, mal als mögliche Version, mal als neue Wahrheit verkauft werden. Informationen über die angebliche Trunkenheit des Opfers, seine mögliche Mitschuld, die Zahl der Schläge.

Einige Beispiele zur Illustration: Den Berichten zufolge stellten Ärzte bei Ermyas M. einen hohen Blutalkoholpegel fest. Bei der BamS ergab der Test 2,08 Promille, bei der SZ 2,06 Promille. Zu den Ursachen seiner Verletzungen schrieb die MAZ: „Fest steht nach einem medizinischen Gutachten, dass Ermyas M. an der Haltestelle Charlottenhof mit einem einzigen wuchtigen Schlag, der den linken Augenknochen zertrümmerte, lebensgefährlich verletzt wurde.“ Möglicherweise habe der Täter mit einer Bierflasche zugeschlagen.

Die BamS wusste zu berichten, laut der „‚Lebendbegutachtung“ im Krankenhaus sei der 37-Jährige durch einen einzigen „Faustschlag“ niedergestreckt worden. „Aufgrund des Schlags, der den Schädelknochen zertrümmerte, ging Ermyas M. zu Boden.“ Falsch, glaubt man der Welt – die lebensbedrohliche Verletzung habe sich der Wissenschaftler erst beim Sturz zugezogen: „Der Ingenieur fällt zu Boden und schlägt so hart und so unglücklich mit dem Kopf auf dem Bordstein auf, dass er das Bewusstsein verliert. Später stellen die Ärzte fest, dass die Verletzung, die der Ingenieur durch den Sturz auf den Bordstein erlitten hat, lebensbedrohlich ist.“

Der Abgleich lässt sich beliebig fortsetzen: Hat der Ingenieur in der Disko „gestritten“ und im Bus „gepöbelt“ (Welt) oder „pöbelten“ kahl geschorene Männer in der Disko, „stritten auch mit“ dem Opfer (Süddeutsche)? Wie verlief das Wortgefecht zwischen Tätern und Opfer? In dem Bericht der Welt ruft M. den Tätern „ihr Schweine“ hinterher. Die angebliche Reaktion der Täter wird allgemein als Beschimpfung zusammengefasst, Worte wie „Neger“ oder „Nigger“ bleiben unerwähnt. Laut MAZ sagte M. „Schweine-Sau“, wird als „Scheiß-Nigger“ beschimpft. Die Süddeutsche weiß auch von der Drohung: „Wir machen dich platt, du Nigger.“ Laut MAZ fällt angeblich der Satz: „Sollen wir dich wegpusten?“ Einig sind sich die Berichte in Folgendem: Weil Mediziner – entgegen anfänglicher Behauptungen – keine Rippenbrüche festgestellt hätten, vermute die Polizei, dass die Täter nicht mehr auf den am Boden liegenden Ermyas M. eingedroschen hätten.

Was von all dem stimmt? Die Bundesanwaltschaft äußert sich nicht zur angeblichen Alkoholisierung des Opfers. Zur Behauptung, der Familienvater sei nur durch einen Schlag niedergestreckt worden, sagte eine Sprecherin: „Der kritische Zustand von Ermyas M. erlaubt es derzeit gar nicht, ihn so gründlich zu untersuchen, dass weitere Verletzungen ausgeschlossen werden können.“ Es sei aber weiter von einem Mordversuch auszugehen: „Wer fragt: ‚Sollen wir dich umpusten?‘, und dann dem Opfer mit einem Faustschlag den Schädelknochen zertrümmert, der weiß, wie gefährlich so ein Schlag sein kann.“

Fest steht: die Informationslage ist prekär. Fraglich ist: Wem soll, wem darf man glauben? Sollte man bei der ursprünglichen Version der Polizei bleiben? Wie soll man umgehen mit angeblichen Gegenargumenten? Darf man da überhaupt weiter von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sprechen?

Wer die Ansicht teilt, dass die Beschimpfung als „Nigger“, kombiniert mit körperlicher Gewalt, rassistisch und fremdenfeindlich ist, liegt damit nicht falsch. Zumal es Hinweise auf den rechtsextremen Hintergrund der Tatverdächtigen gibt, die aber nicht jedes Medium ernst nehmen möchte. So berichtet die Welt in einem Nebensatz: „(…) zumindest bei einem von ihnen soll kein Kontakt zur rechten Szene bestehen“. Es kann nicht schaden, sich angesichts der Beweislage mit einem anderen Gedanken vertraut zu machen: dass der Tatverlauf und seine Auslegung im Detail umstritten bleiben könnten. Falls das Opfer stirbt, nicht wieder zu Bewusstsein kommt oder die Erinnerung eingebüßt hat. Falls die Tatverdächtigen vor Gericht die Aussage verweigern oder die Vorwürfe bestreiten.

Man kann es sich natürlich auch einfacher machen. Für das Springer-Flaggschiff Welt hat schon seit Montag alles eine neue, klare Ordnung: „Es ist ein Streit zwischen drei Betrunkenen mit unglücklichem Ausgang an diesem Ostersonntag in Potsdam, ein Streit, wie er tagtäglich in Deutschland passiert. Was ihn von den Tausenden anderen Fällen, wenn aggressive Betrunkene übereinander herfallen, unterscheidet, ist die Hautfarbe des Opfers Ermyas M.“