Der Wahn als inszeniertes Wagnis

MUSIKTHEATER Antonio Vivaldi als Opernkomponist? Die Bremer Inszenierung seines „Orlando furioso“ ist grandios: musikalisch, schauspielerisch – und nicht zuletzt dramaturgisch

Genial, wie Regisseurin Anna-Sophie Mahler das Edle zur Fiktion verfremdet

Gelbe Wände, mit braunen Leitplanken vor den Macken geschützt, die durch die Gänge rangierte Betten schlagen, illuminiert mit grün leuchtenden Notausgangs-Schildern: Ein Altenheim ist ein ästhetisch öder Ort, umso besser taugend zum Wahnsinnigwerden. Auf dieser Bühne findet „Orlando furioso“, der rasende Roland, die richtige Umgebung – und das Bremer Publikum ein Opernerlebnis, das alles andere als alltäglich ist.

Antonio Vivaldi, der den lange vergessenen „Orlando“ erstmals 1713 vertonte, ist dem breiten Publikum als Verfasser gut verdaulicher Streichkonzerte bekannt. Als einer dieser Barockkomponisten, von denen Klassik-Programme wie NDR Kultur gern mal ein Zwischendurch-Häppchen servieren: hier ein beschwingtes Rondo, da ein gefühliges Adagio oder flottes Allegro. Die dramatische Wucht, das existentielle Anliegen und auch die partielle Fremdheit der Tonsprache, die Vivaldis Opern zu eigen ist, bleibt so verborgen.

In Bremen ist nun fast drei Stunden lang mitzuerleben, wie sich der Wahnsinn in das Gemüt des unglücklich liebenden Orlando gräbt. Seine Arien sind voller Sprünge und jäher Rückungen, zu hören ist eine Opernsprache, die sich noch dem ursprünglichen „Dramma per Musica“ verpflichtet fühlt, nicht späterem Wohlklangs-Diktat.

„Orlando furioso“ ist seit Längerem die erste in Bremen gegebene Barockoper, was eine bedauerliche Vernachlässigung markiert. In Bremen hat sich zuletzt der Vorvorgänger von Intendant Michael Börgerding, der wegen seines Prunk und Repräsentiergehabes oft und zu Recht gescholtene Intendant Hans-Joachim Frey, um das Genre gekümmert – und diesbezüglich einen guten Akzent gesetzt. Eine Barockoper wie der Orlando, der gut zweieinhalb Jahrhunderte verschollen war, bietet musikalisch Unbekannteres und läuft nicht Gefahr, mit konventionellen Aufführungstraditionen des 19. Jahrhunderts befrachtet zu sein. In der Summe wirken die Inszenierungen solcher Stücke oft wesentlich moderner als das sattbekannte Musiktheater-Repertoire.

Das Team des Bremer Theaters unter Leitung von Olof Boman nutzt diese Chance sowohl musikalisch als auch schauspielerisch. Dabei ist bemerkenswert, dass es fast alle Partien samt ihrer hochartifiziellen Barock-Koloraturen aus dem festen Ensemble heraus besetzen kann. Zu diesem doppelten Erfolg kommt ein Drittes hinzu: eine spektakulär gelingende Dramaturgie.

Denn: Vom Libretto her endet „Orlando“ mit einem Happy End, mit der Läuterung des Bösewichts. Also einer gattungstypischen, aber grob unlogischen Wendung, die den gewünschten Triumph des Guten herbei biegt. Umschreiben kann man Opern nicht einfach – aber Regisseurin Anna-Sophie Mahler findet einen genialen Dreh, der das Edle zur Fiktion verfremdet: Auf dem Höhepunkt seines Wahns, nachdem er selbst das Orchester aus dem Graben gejagt hat, versinkt Orlando in Apathie – und das ganze weitere Geschehen findet nur noch auf der Texttafel über der Bühne statt.

Selten hat die – eigentlich nur der Übersetzung aus dem Italienischen dienende – Übertitelung eine so tragende dramaturgische Funktion. Mit diesem „Orlando furioso“ macht das Bremer Musiktheater tatsächlich Furore.  HENNING BLEYL

weitere Vorstellungen: 20. 10., 15.30 Uhr; 23. + 26. 10., je 19.30 Uhr, Bremen, Theater am Goetheplatz