: Recht in Zeiten des Chaos
JUSTIZ Unter dem Assad-Regime wurde gefoltert. Jetzt hofft der Präsident des Islamischen Gerichts von Asas auf bessere Zeiten. Doch was die verschiedenen gemäßigten und extremen Gruppen gemein haben, ist vor allem dies: Alle verfolgen nur die kleinen Sünder
■ Als die syrischen Rebellen im Jahr 2012 die Stadt Asas eroberten, übernahmen sie nicht nur die Herrschaft über das Rathaus. Sie schufen auch neue islamische Gerichte. Seither urteilen die Richter hier auf Grundlage von Teilen des bisherigen syrischen Gesetzbuchs ebenso wie der Scharia, dem islamischen Recht.
■ In Gerichten, an denen eher gemäßigte Rebellengruppen dominieren, arbeiten islamische Rechtsgelehrte noch Seite an Seite mit zivilen Juristen – für eine „Übergangszeit“, wie sie sagen. Extremere islamistische Gruppen haben ihre eigene – extremere – Rechtsbarkeit.
AUS ASAS GABRIELE DEL GRANDE
Mohammed Abu Hassan ist 50 Jahre alt, hat einen Abschluss in Islamischem Recht an der Universität Damaskus und 20 Jahre Erfahrung als Grundschullehrer, Fach Arabisch. Seine Kenntnisse der Scharia machen ihn zum Scheikh, und in dieser Eigenschaft ist er seit nunmehr einem Jahr Präsident des Islamischen Tribunals von Asas. Die Stadt mit ihren 90.000 Einwohnern liegt nördlich von Aleppo, nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Kontrolliert wird sie von den gemäßigt-islamistischen Brigaden Liwa al-Tauhid, die zur Freien Syrischen Armee gehören.
Der Scheikh empfängt mich in seinem Büro, er gewährt mir Vortritt vor zehn Personen, die auf ein Gespräch mit ihm warten. „Unser Gericht hat drei Kammern: eine für Zivil-, eine für Verwaltungs- und eine für Strafsachen“, berichtet er. „Sie kommen zu uns wegen Erbschaftsangelegenheiten, wegen einer Scheidung, wegen eines Wohnungskaufs oder auch, um einen Diebstahl oder irgendein anderes Verbrechen anzuzeigen.“
Lauter junge Männer
Zu seinen Mitarbeitern gehören Anwälte genauso wie andere Scheikhs. Zwar stützt sich das Gericht bei der Klärung vieler Fragen immer noch auf das syrische Zivil-, Verwaltungs- oder Strafrechtsgesetzbuch. Aber die juristische Hauptquelle ist hier das islamische Recht. Und Scheikh Mohammed reklamiert das als Errungenschaft.
„Wir wollen einen gemäßigten islamischen Staat, der die Rechte aller Minderheiten respektiert, der aber seine Inspiration aus den Texten der islamischen Tradition bezieht“, sagt er. Europa und Amerika hätten Angst vor dem islamischen Recht: „Dabei waren es die weltlichen Gerichte des Regimes, die seit Beginn der Revolution 200.000 politische Gefangene in Haft geschickt haben, die zugelassen haben, dass Hunderte von ihnen unter der Folter starben.“ Seine Hoffnung: „Lasst uns das islamische Recht anwenden, dann wird endlich Schluss sein mit diesem Unrecht.“
Scheikh Mohammed glaubt, was er sagt. Zum Beweis seiner Aufrichtigkeit begleitet er mich ins Gefängnis von Asas. Der Bau ist alt, die Franzosen haben ihn nach dem Ersten Weltkrieg errichtet.
Der Direktor, Abu Ali, um die 40, war früher Offizier des Regimes: „Ich war in der Antidrogeneinheit der Gefängnispolizei, in den Gefängnissen des Regimes habe ich alle Foltermethoden gesehen: den Stuhl, das Kreuz, die Stromstöße … Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus und kündigte. Das war 2010, ein Jahr vor der Revolution.“
Mit sicherem Griff führt er den großen Eisenschlüssel ins Schloss der gepanzerten Tür, die sich quietschend öffnet und den Blick auf das Halbdunkel der alten Zelle freigibt. Voller Neugier nähern sich die Gefangenen, etwa zehn Männer. Alle sind Zivilisten. Soldaten gibt es hier nicht. Die an der Front gefangenen Regimesoldaten werden ohne jeden Prozess systematisch exekutiert, wie FSA-Kämpfer immer wieder berichten.
Ich schaue den Häftlingen in die Augen, es sind junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren. Bassam wurde vor einer Woche verhaftet. „Ich habe einen Fehler begangen, das gebe ich zu. Ich war mit einem Freund unterwegs. Da stand das Motorrad, die Schlüssel steckten, kein Mensch war in Sicht, ich habe es gestohlen. Als mein Vater es erfuhr, ist er zum Befreiungsheer gegangen und hat mich angezeigt. Das Motorrad wurde dem Besitzer zurückgegeben, und ich wurde zu einem Monat Haft verurteilt.“
Assisa sitzt ein, weil er seine Schwester geschlagen hat, Omar wegen Urkundenfälschung, Mahmud wegen Schmuggel. Keiner muss mehr als 30 Tagen absitzen. Den Grund erklärt der Direktor: „Wir sind in Kriegszeiten, da dürfen wir nicht zu streng sein. Die Menschen stehlen aus Hunger, wir können ihnen nicht die Hand abschlagen.“
Das Gefängnis habe in dieser Phase eine „erzieherische, nicht eine bestrafende Funktion“. Deshalb, fährt er fort, komme „dreimal pro Woche ein Scheikh und hält Religionsstunden für die Gefangenen, damit sie verstehen, wo sie geirrt haben, die Gebete lernen und sich für ihre Zukunft gute Prinzipien aneignen.“
Der gutmütige Auftritt des Gefängnisdirektors von Asas wirkt aufrichtig. Zum Beispiel hat er sich den Fall von Asis zu Herzen genommen, eines 30-jährigen Drogenabhängiger, der in Haft wollte, um den Heroinentzug zu schaffen, mit der Hilfe von Medikamenten, die ihm kostenlos von den Ärzten des Feldhospitals der Stadt verabreicht werden.
Und doch verbirgt sich in dieser Gutmütigkeit eine tückische Falle. Es gibt keine Trennung von staatlichem Gesetz und religiöser Moral. Genau deshalb sitzen Azad und Wassim ein: „Ich habe mit einem Freund zusammen eine Flasche Raki leergemacht“, erzählt Azad, „und ich war völlig betrunken. Trotzdem habe ich mich ans Steuer des Lkw gesetzt, ich hatte hier in Asas einen Job zu erledigen. An einer Straßensperre haben sie mich angehalten, sie haben gesehen, dass ich betrunken war, und mich sofort ins Gefängnis geschafft.“ Wassim dagegen zieht sein T-Shirt aus, um mir zu zeigen, worin seine Schuld besteht. Auf dem Rücken hat er eine Tätowierung, sie reicht vom Hals bis zur Hüfte, eine blonde Bikini-Schönheit, wohl die Erinnerung an eine wilde Nacht in Jugendzeiten.
Beide haben eine symbolische Strafe bekommen: eine Woche Haft plus Koranstudium. Und sie dürfen sich glücklich schätzen. Ein anderes Gericht in einer anderen Stadt hätte womöglich weit härtere Strafen verhängt. Denn im syrischen Kriegschaos gibt es kein gleiches Gesetz für alle. Sämtliche Tribunale in den von der Opposition kontrollierten Zonen stützen sich auf das islamische Recht, doch jeder interpretiert es anders, je nach der religiösen Ausrichtung der vor Ort kommandierenden Brigade.
Um nur die wichtigsten Kräfte der Opposition zu nennen: Es gibt die Gerichte der gemäßigten Islamisch-syrischen Befreiungsfront, die der radikalen Salafisten von Ahrar al-Scham, die der fundamentalistischen Dschihadisten von Dschabhat al-Nusra und sogar die vom Islamischen Staat in Irak und Syrien (ISIS), die al-Qaida nahestehen.
Die Großen kommen davon
Ja, auch die Al-Qaida-Kräfte in Syrien haben ihre eigenen Gerichte. Sie zu besuchen ist unmöglich, denn Pressekontakte lehnen sie strikt ab. Doch auf YouTube findet man schnell die Videos von den Exekutionen ihrer Gefangenen – oft genug bloß deshalb umgebracht, weil sie den Namen Gottes gelästert oder ein Motorrad gestohlen haben.
Nur eines haben die Gerichte der Gemäßigten mit denen der Dschihadisten gemein: Sie verfolgen die armen Leute, verurteilen sie wegen ihrer Sünden und ihrer kleinen Verbrechen, während sie die großen Kaliber in Ruhe lassen. Zum Beispiel die faulen Äpfel in den Reihen der Freien Syrischen Armee – Leute wie Abu Khaled, 30 Jahr alt, vor der Revolution Fischhändler und heute in Aleppo Chef einer kleinen Brigade der Freien Syrischen Armee.
Ich treffe ihn im September in Aleppo, an der vordersten Frontlinie. Er trägt einen Tarnanzug, Nike-Schuhe, Ray-Ban-Sonnenbrille, im Gürtel stecken zwei Pistolen. Mehr als 200 Männer stehen unter seinem Kommando, gerade sind die Kämpfe gegen die Regimetruppen wieder aufgeflammt.
Seine Hände halten mit sicherem Griff ein Maschinengewehr. Er feuert die erste, dann eine zweite Salve ab. Dann dreht er sich zu dem Jungen mit der Videokamera um, auf ein Zeichen hin lässt er die Waffe los, zündet sich eine Zigarette an. Auch für heute hat er wieder seinen Auftritt fürs Media-Center der Miliz hinter sich gebracht, jetzt kann er wieder zurück ins Hauptquartier und sich ausruhen. Der Konvoi mit seiner Eskorte fährt mit quietschenden Reifen ab: drei nagelneue BMW-SUVs ohne Nummernschilder, in irgendeinem Autohaus geklaut.
Es geht raus aus der Stadt, aufs Land. Abu Khaled weiß nicht einmal, wie der Eigentümer der Villa heißt, in der er seit Monaten haust, aber das ist ihm egal. Seitdem er und seine Leute die Tür aufgebrochen haben, betrachtet er das Haus als sein Eigentum. Wie alles andere auch. Seit einem Jahr schon leben sie von den Erträgen der Raubüberfälle und Entführungen. Schließlich herrscht Revolution, sagen seine Leute.
Wie hätte er denn sonst die ersten Waffen kaufen können? Und dann die Werkstatt zum Bau einfacher Raketen einrichten, sich eine persönliche Miliz zulegen können? Er sei ein reicher, mächtiger Mann, sagen mir mehrere Bewohner seines Viertels unabhängig voneinander. Er genieße so viel Respekt, dass er den Mann seiner Geliebten umbringen konnte, ohne dass irgendwer protestiert habe. Im Gegenteil: Alle seien herbeigeeilt, um ihm dafür zu gratulieren, dass er einen Spion des Regimes beseitigt habe.