: Am schwarzen Ende des Glücks
Zwei neue Stücke am Stuttgarter Schauspiel zeigen eine Gesellschaft, die ihre Protagonisten im Regen stehen lässt: Am vergangenen Wochenende hatten Biljana Srbljanovic’ „Heuschrecken“ und Meike Haucks „Hund frisst Gras“ ihre Premieren
VON CLAUDIA GASS
Heuschrecken können eine Plage sein, wenn sie ganze Landstriche kahl fressen. Der neudeutsche Sprachgebrauch kennt das Wort auch als Synonym für profitgierige Finanzinvestoren. In Biljana Srbljanovic’ Stück „Heuschrecken“, dessen deutschsprachige Erstaufführung jetzt am Stuttgarter Staatsschauspiel Premiere hatte, vergleicht eine der Protagonistinnen, die 35-jährige Nadezda, den endsiebziger Herren Simic hilflos-abfällig mit einem solchen Grashüpfer.
Heuschrecken symbolisieren in der satirisch-boshaften Studie der serbischen Autorin über den Konflikt der Generationen, über die Angst vor dem Sterben und nicht erfülltes Leben jedoch nicht nur die Alten. Auch die Jungen, ja sogar das Kind Alegra sind bei Srbljanovic schon alt oder fühlen sich zumindest so. Anders als in manch anderem Stück der 36-jährigen Belgraderin klingen die politische und gesellschaftliche Situation ihres Heimatlandes hier nur an. Die scharfsinnig beobachteten, mit entlarvendem sprachlichem Witz beschriebenen Alltagsszenen könnten genauso hierzulande spielen.
Nur das Blauweiß des Wolkenhimmels auf den rundum gehängten Prospekten bringt einen Hauch Fröhlichkeit in die verhärmte Tristesse der Bühne. Aus mehreren alten Radios tönen die teils recht ausführlichen und präzise die Charaktere beschreibenden Regieanweisungen der Autorin. Zeitgleich dazu lässt Regisseurin Barbara-David Brüesch bereits die jeweiligen Szenen anlaufen, die sie zudem noch fast filmisch miteinander verschränkt.
Die Regie zappt hin und her zwischen dem schwulen Fredi (Rainer Philippi), der mit Schwester Dada (Lisa Wildmann), einer geistig nicht sehr hellen TV-Wetter-Ansagerin, über die Behandlung des debilen Vaters (Reinhold Ohngemach) streitet, zum eitlen Fernsehjournalisten mit Verfolgungswahn Maksim (Sebastian Kowski) und dann wieder zum alltäglichen Kleinkrieg in Dadas Familie. So entsteht in manchen Szenen ein slapstickhaft überspitzter magischer Realismus, etwa wenn Frau Petrovic’ Koffer sich wie von Geisterhand bewegt über die Bühne schiebt und sie schließlich darüber stolpert. Auch die Figur der Nadezda, von Ursula Renneke als zwischen kindlicher Unschuld und hysterischer Überdrehtheit pendelnder blonder Engel gespielt, hebt ihre Kraft zu träumen von dem Szenario der desillusionierten bürgerlichen Jedermänner ab.
Die Regisseurin arbeitet jedoch die subtil in den Text gewobenen allegorischen Elemente zu wenig heraus. Sie setzt mehr auf Überzeichnung. Die Figuren schrammen oft haarscharf an der Karikatur vorbei. Zu selten haben die durchweg guten Akteure die Möglichkeit, gerade auch durch ihr sinnfällig körperbetontes Spiel, die tragische Fallhöhe der Charaktere zu zeigen. Am Schluss stehen alle im wahrsten Sinne des Wortes im Regen, der wie in einem Vorhang aus Wasser von oben herunterprasselt.
Es ist sicherlich ein Zufall, dass auch die Regisseurin Claudia Bauer ihre Inszenierung der Uraufführung von „Hund frisst Gras“ – ebenfalls am vergangenen Wochenende im Stuttgarter Schauspiel – mit einem veritablen Regenschauer auf der Bühne enden lässt. Aber Meike Haucks Text weist bei aller Unterschiedlichkeit in der sprachlichen Gestaltung und der Handlung Parallelen zu Biljana Srbljanovic’ Stück auf. Die saturierte Freizeit- und Spaßgesellschaft, die Hauck beschreibt, hat zwar wenig mit der gesellschaftlichen Realität des heutigen Serbien-Montenegro gemein, die die Figuren in „Heuschrecken“ prägt. Aber auch im zweiten Theaterstück der jungen deutschen Autorin geht es um nicht gelebte Wünsche und Sehnsüchte, um die Brüchigkeit von Lebensentwürfen hinter der Fassade bürgerlichen Glücks.
Zwei Paare und ein Single-Mann, gut situierte Mittdreißiger und -vierziger sehen bei einer Party von der Dachterrasse aus das Paar in der Wohnung gegenüber beim Essen, beim Fernsehen und beim Sex zu. Das vermeintliche Eheglück, das die Voyeure aus Langeweile beobachten, wirkt wie ein Katalysator. Wie sprachliche Übersprungshandlungen brechen die Enttäuschung über die eigene Zweierbeziehung und Desillusioniertheit aufgrund festgefahrener Lebensplanungen aus den Figuren heraus, mischt sich belangloser Partysmalltalk mit wütenden Anklagen. Knapp, lakonisch, in kurzen Dialogen und ebenfalls mit bitterbösem, entlarvendem Blick stellt Hauck das dar. Mehr als es die Vorlage vorsieht, hält die Regisseurin in der Schwebe, was an dem bizarren Geschehen Realität ist, mengt ein wenig Thrillerspannung bei. Auch Bauer setzt ein sehr kör- perbetontes Spiel, das manchmal in einen komisch-grotesken Tanz mündet, als Stilmittel ein. Obwohl die Regie wegen künstlerischer Differenzen vom Intendanten Hasko Weber sehr kurzfristig ausgewechselt worden war, hat die Inszenierung nichts Unfertiges. Die sieben Schauspieler geben ihren von der Autorin sparsam charakterisierten Figuren überzeugend Profil.
Sowohl „Heuschrecken“ als auch „Hund frisst Gras“ verzichten erfreulicherweise auf die Arbeit mit postdramatischen Textflächen. Es sind gut gebaute dialogische Stücke, die genau deshalb überzeugen.