: Der weibliche Blick
SCHWARZWEISS-FOTOGRAFIE Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zeigt Arbeiten von Fotografinnen aus den 1920er-Jahren, die gesellschaftliche Umbrüche dokumentieren – und eine neue Art zu sehen
Ein Mann steht am Bug eines Kahns und stößt eine lange Stange ins Wasser, auf dem Eisschollen schwimmen. Er muss aufpassen, dass er in dem schmalen Fleet nicht mit der entgegenkommenden Schute zusammenstößt. Das Schwarzweißbild entstand um 1930 und ist ein Paradebeispiel für das „Neue Sehen“, eine Stilrichtung aus den 1920er Jahren. Die Fotografin Lotte Genzsch wählte einen stark angeschnittenen, dynamischen Bildausschnitt. Sie sah wie die scharfen Linien der Schiffe mit der Kaimauer Parallelen bildeten und bannte den besonderen Lichteffekt, der auf dem Eiswasser glitzernd reflektierte.
„Eine Frage der Zeit. Vier Fotografinnen im Hamburg der Zwanziger Jahre“ heißt die Ausstellung, die derzeit im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen ist. Die Fotografinnen – außer Lotte Genzsch (1907 – 2003) sind dies Minya Diez-Dührkoop (1873 – 1929), Natascha A. Brunswick (1909 –2003) und Hildi Schmidt Heins (geboren 1915) – besitzen in der Fotowelt keine bedeutenden Namen und werden erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Trotzdem stehen die gut 160 Arbeiten aus dem Museumsbestand für gesellschaftliche Umbrüche.
Die Kamera und das Fotografenhandwerk eröffnete Frauen neue Berufsperspektiven. Die gelernten Fotografinnen Lotte Genzsch und Minya Diez-Dührkoop betrieben in Hamburg eigene Ateliers. Während sich Lotte Genzsch vom Bauhaus inspirieren ließ, fühlte sich die über 30 Jahre ältere Minya Diez-Dührkoop zum Expressionismus hingezogen und fotografierte befreundete Künstler. Diese inszenierte die Lichtbildnerin und Kunstsammlerin im Studio in exaltierten Tanzszenen mit selbst gebastelten Fantasiekostümen.
Frauen emanzipierten sich, und die Fotografinnen lieferten dafür Belege, bewusst oder unbewusst. In Travemünde lichtete die studierte Grafikerin und Fotografin Hildi Schmidt Heins ein befreundetes Paar ab. Mann und Frau sonnen sich Wange an Wange mit entgegengesetzt liegenden Köpfen. Das Bild sei ein Indiz für die keimende Gleichberechtigung der Geschlechter, weil jede Hierarchie fehle, behauptet die Kuratorin Gabriele Betancourt Nuñez und weist darauf hin, dass die Aufnahme wegen der symmetrischen Bildästhetik wiederum dem Neuen Sehen verpflichtet sei.
Den Zeitgeist der 1920er und das Leben einer modernen Familie dokumentierte Natascha A. Brunswick. Die jüdische Hobby-Fotografin und Mathematikerin knipste bis zu ihrer Emigration 1937 mit einer Leica-Kleinbildkamera die musische Erziehung ihrer Kinder sowie die modischen Exkurse ihrer Schwester. Auch diese Schnappschüsse fürs private Fotoalbum waren „gesehene Bilder“, die als Zeitdokumente funktionieren – und als Kunstfotografien. THOMAS JOERDENS
bis 27. Juni, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg