PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Über Dinge, die Spaß machen

Auf andere einprügeln, sich auspeitschen lassen, 42 Kilometer rennen – ich möchte auch mal ein Mensch werden

Die anderen waren schon nach Hause gegangen. Nur noch der Turnlehrer Richard Schwolgin stand am Rande des Sportplatzes und wartete, bis auch ich noch die letzten beiden Runden auf der Aschenbahn in gemächlichem Tempo beendet hatte. Dann lächelte er gequält und sagte: „Vier minus.“ Ich hätte natürlich schneller laufen können. Aber warum? Ich war nicht auf der Flucht. Es war doch nur die Abiturprüfung in Sport.

Warum sich quälen ohne Not? Warum schneller rennen als nötig? Warum Sex bei einer Domina, wo es doch Blümchen gibt? Wenn ich die Zeitung lese, wenn ich anderen beim Erzählen zuhöre, wenn ich mich auf Wanderparkplätzen umschaue: Sie oder ich? Sind die normal oder bin ich es? Wer spinnt hier?

Fünf Jugendliche haben vor nicht langer Zeit bei Mannheim einen Obdachlosen „aus Spaß“ totgeprügelt. Ich fühle mich manchmal dem Regenwurm verwandter als meinen eigenen Artgenossen. Wie geht es, dass man Spaß hat, wenn ein anderer vor Schmerzen brüllt? Ich möchte auch mal ein Mensch sein.

Als ich im letzten Sommer in den österreichischen Alpen einen Bergsteiger traf, der sich gerade seinen Klettergürtel abgeschnallt hatte und erschöpft ins Gras sank, sagte ich ihm, dass von der anderen Seite eine Seilbahn auf den Maldonkopf hinaufführe. Er schaute mir noch lange fragend nach, als habe er mich nicht verstanden.

Dabei war es umgekehrt. Ich kapiere bis heute nicht, warum man an einer glatten Wand hinauf muss, wo es andersherum viel bequemer geht. Und sage niemand, die Aussicht sei anders.

Ich heiße nicht Baumann, und ich will auch nicht rennen ohne wirklichen Grund. Nur bei Gefahr, da bin ich schnell. Da kann ich olympische Rekorde leicht einstellen. Flüchten oder Standhalten? Ich weiß es.

Vor ein paar Tagen erzählte mir eine ganz liebe Frau, wie schön sie es findet, Männer auszupeitschen. Nicole, 35, arbeitet als Domina in einem Stuttgarter SM-Studio. Früher war sie Kindergärtnerin, das sei ihr aber „zu langweilig“ gewesen. Ich mochte sie gleich, als ich sie sah, und wir saßen noch lange am Abend am Tisch beim Italiener und ich muss sie dermaßen angestarrt haben, dass ich nicht einmal mehr sagen kann, was sie getrunken hat. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie in einem knappen Lederhöschen vor mir steht, in der rechten Hand ein Nudelholz. Und sie zuschlägt und ich schreie. Aber nicht vor Lust, sondern vor Schmerzen: „Hör auf, du blöde Kuh, das tut verdammt weh!“

Nicole, über die gerade ein Buch erschienen ist (Josef-Otto Freudereich: „Abstürze“, Klöpfer & Meyer) erzählte von einem ihrer Kunden, einem katholischen Pfarrer. Der lasse sich immer nackt in Cellophanfolie verpacken, dann müsse eine der Dominas ihm die Folie mit einem Ruck vom Leibe reißen. Mehr nicht. Das genügt und er ginge zufrieden von dannen.

Ich bestellte noch einen roten Hauswein und grübelte. An seine Grenzen gehen. Den inneren Schweinehund überwinden. Vielleicht sollte ich ja tatsächlich mal mit einem Bungee-Seil von der Golden-Gate-Brücke springen. Wenn man sich über nichts anderes mehr freuen kann, dann wenigstens noch darüber, lebend davongekommen zu sein. Als ich von meinem Rotweinglas wieder hochschaute, war Domina Nicole schon gegangen.

Kommenden Montag fliege ich nach Somalia. Am Flughafen von Mogadischu, so schrieb mir mein Gastgeber Sheik Ali vor ein paar Tagen, würden mich sieben mit Kalaschnikows bewaffnete Männer abholen. Unter sieben Leibwächtern sollte man sich nicht im Land bewegen. Sieben sei die Mindestzahl. Dort tötet man offenbar nicht aus Spaß, sondern aus Ernst. Dort braucht man keine Bungee-Seile. Dort lässt sich niemand freiwillig auspeitschen, weil es ihm zu Hause zu gut geht.

Sieben. Eine magische Zahl. Sieben Brücken, sieben Bürgen, sieben Todsünden. Ich muss immer noch an Nicole denken.

Kontakt zur Domina? kolumne@taz.de DIENSTAG: Adrienne Woltersdorf OVERSEAS