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Archiv-Artikel

Wenn Werte zu Tyrannen werden

Von der Wertedebatte zum intellektuellen Betrug ist es nur ein kleiner Schritt – eine aktuelle Diskussion und ihre Hintergründe

Der Appell an die Werte soll den Menschen gleichsam von innen heraus auf den richtigen Weg bringen

VON JÜRGEN BUSCHE

Das Märchen vom Hans im Glück deutet seine ironische Pointe schon in der Überschrift an. Hans hat etliche Jahre bei einem guten Herrn gedient. Als die Zeit herum ist, bekommt er von diesem eine stattliche Kugel Gold. So belohnt, macht er sich auf den Heimweg, der lang ist. Allmählich wird Hans das Gold zu schwer. Er tauscht es bei Gelegenheit gegen eine Kuh, die er wenigstens nicht tragen muss. Aber die Kuh bleibt immerzu stehen, um am Wegesrand Gras abzurupfen. So tauscht Hans die Kuh bei nächster Gelegenheit gegen ein Schwein. Doch auch dieses schafft Mühsal. Hans vertauscht es gegen eine Gans. Am Ende des Märchens hat er nichts mehr. Das, will uns die Fabel scheinbar weismachen, ist Glück.

Daran hat natürlich niemand jemals geglaubt, weder zu den Zeiten vor den Brüdern Grimm, im 18. und im 16. Jahrhundert, als die meisten Menschen in Mitteleuropa entsetzlich arm waren, noch im 19. Jahrhundert, als die gesammelten Hausmärchen vorzugsweise in den Kinderzimmern des fleißigen und materiell aufstrebenden Bürgertums vorgelesen wurden. Die Lehre der Geschichte war damals: Wer aus Bequemlichkeit verprasst, was er sich zuvor in saurem Schweiß erworben hat, ist ein Dummkopf. Dabei kann einer glücklich sein. Aber das ist ein Märchen.

Es ist längst beobachtet und viel diskutiert worden, dass Werte, wie sie für ein gelingendes Leben Orientierungspunkte bedeuten – also, um eine kurze Aufzählung des Philosophen Nicolai Hartmann heranzuziehen: das Gute, das Edle, die Fülle, die Reinheit –, einer, wie gern gesagt wird, unwiderstehlichen Ökonomisierung zum Opfer gefallen sind. Der Wert aller Dinge, heißt es, wird durch Geld bestimmt, und zuletzt hat der Philosoph Peter Sloterdijk die These gewagt, das sei nicht ganz und gar zu beklagen, denn Geld neutralisiere eben auch alles, insofern es durch Geld zu erreichen sei – solange es jedem offen stehe, Geld zu verdienen wie Hans, der es geschafft hat, mit einem Goldklumpen in die Welt ziehen zu können.

Wenn derzeit von Werten, von Grundwerten gar, die Rede ist, kann man den Eindruck haben, es werde damit etwas angesprochen, was der Welt der Ökonomisierung durchaus entzogen ist, nicht zu ihr gehört, vielleicht nie zu ihr gehörte. Politiker sprechen von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Man kann einwenden, das seien Politikziele. Tatsächlich sind es aber Ziele, die nicht erreicht, nicht einmal angestrebt werden können, wenn nicht ein Bewusstsein von dem, was sie bedeuten, in den Menschen lebendig ist, ganz gleich, in welchem Umfang sie Erfahrung mit ihnen, sei es des Genusses, sei es der Entbehrung, gemacht haben. Zugleich sind sie deshalb aber auch mit Vorstellungen verbunden, die etwaigen Realisierungen im Wege stehen. Manchmal wird zu viel von ihnen erwartet, manchmal wird ihre Erreichbarkeit mit Schwierigkeiten verknüpft, die alle mobilisierbaren Kräfte übersteigen. Je großartiger die Werte in Ziele umgedeutet werden, umso wirksamer sind sie auf das Feld geistvoller Diskussionen verwiesen, das sie dann gewiss nicht mehr verlassen.

Einer der bedeutendsten Philosophen, die über die Karriere der Werte im Zeitalter der totalen Ökonomisierung nachgedacht haben – lange, bevor diese so total wurde –, war eben Nikolai Hartmann. Und er warnte: „Jeder Wert hat – wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person – die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen, und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht einmal entgegengesetzt sind.“

Von einer „Tyrannei der Werte“ kann hier allerdings nur deshalb die Rede sein, weil ehedem die Philosophen versuchten, sich an die Freiheit zu gewöhnen, die sie jenseits von Religion und Metaphysik entdeckt hatten und sogleich vom Nihilismus bedroht sahen. „Der Wert und das Werthafte“, befand Martin Heidegger abschätzig, „wird zum positivistischen Ersatz für das Metaphysische.“ Anders aber als das Metaphysische und weit mehr verwandt mit mancher Religion, ist das Reden von Werten, das Religionsersatz anbietet, nur allzu bereit, es der Religion im Eifern gleichzutun. „Nicht das Sein der Werte“, bemerkte der evangelische Theologe Eberhard Jüngel schon vor 30 Jahren, „wohl aber die Realisierung der Werte führt leicht zum Rigorismus, ja Fanatismus im Blick auf einen bestimmten Wert.“

Denn der Wert bedarf der Interpretation. Was ist gut, wann ist es gut, wo ist es gut, wer trägt die Lasten des Gutseins, wer profitiert? Welches Verhalten gebiert das Gutsein, was begleitet es? Der stets das Politische bedenkende Staatsrechtler Carl Schmitt befand noch im Alter rabiat: „Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Tugenden übt man aus; Normen wendet man an; Befehle werden vollzogen; aber Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muss sie geltend machen. Wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“ Mit diesem letzten Satz will Schmitt behaupten, dass Wertsetzung noch fordernder ist als Religionsstiftung. Durch Werte soll das Heil aus dem Menschen selber kommen.

Das ist gewiss polemisch. Aber richtig ist, dass der Appell an die Werte den Menschen gleichsam von innen heraus auf den richtigen Weg bringen soll. Und das in einer Situation, in der das Gute, das Böse, das Edle Schwierigkeiten bereiten. „Das Gute ist nicht definierbar“, befand schon Nikolai Hartmann, und, um noch einmal den Ephorus des Tübinger Stifts, Jüngel, zu zitieren: „Alle Ethik lebt von der Paradoxie, dass das Selbstverständliche sich nicht mehr von selbst versteht.“ Auch die Ethik ist die Ebene der Diskussion. Wenn man jedoch das, was sich nicht mehr von selbst versteht, für die Praxis des täglichen Lebens braucht, muss man es den Menschen wieder eintrichtern, es ihnen gebieten. „Und indem man es gebietet“, folgert Jüngel, „etabliert man es dann als Grundwert.“

Das haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1948 getan, und es ist den Deutschen, die in der Bundesrepublik Deutschland lebten, gut bekommen. Aber das Selbstverständliche hat bei Menschen die Tendenz, mit der Zeit immer weniger selbstverständlich zu sein, zumal dann, wenn es mit Beschwernissen verbunden ist. Dass eine stattliche Kugel Gold Reichtum bedeutet, ist selbstverständlich, und dass Reichtum besser ist als Armut, auch. Aber wenn das Nächstliegende darin besteht, jenes Gold mit seinem Gewicht bei Sonnenglut über eine staubige Straße zu tragen, Stunde um Stunde, dann kann wohl bei einem einfältigen Menschen, der sich entscheidet, wie er es versteht, der Wunsch wach werden, das, was man hat, einfacher zu haben und noch einfacher und noch einfacher. So geht es jenem Hans, der im Glück ist, wenn er nichts mehr hat.

Politisch und wertphilosophisch interessant an dem Märchen ist, wie Hans sein Gold verliert. Es ist kein Räuber, der es ihm wegnimmt, kein Spieler übertölpelt ihn, kein Betrüger gaukelt ihm größeren Reichtum vor, um ihm den gegenwärtigen abzunehmen. Es ist Hans selber, der seine Verluste betreibt, nur: Er sieht sie nicht als Verluste. Er betreibt sukzessive Umwertung und Entwertung. Leitmotiv ist ihm dabei die eigene Bequemlichkeit.

Das Glück der Deutschen mit ihrem Grundgesetz beruhte nicht nur, aber auch auf Haltungen, die ihnen über viele Generationen hin selbstverständlich geworden waren, als sie es bekamen, auch wenn sie sich allzu oft nicht mit ihnen bewährt hatten. Wer das sagt, relativiert keineswegs die Bedeutung des Grundgesetzes und die politische Beachtung seiner Artikel. Die gleichen Haltungen hatten auch die Menschen in der DDR geprägt. Das machte sie auch leistungsstark, aber die Politik verhinderte, dass sie in der gleichen Weise belohnt wurden wie ihre Landsleute im Westen. Um diesen Haltungen auf die Spur zu kommen, um zu begreifen, was einst sich von selbst verstand, muss man beachten, dass Haltungen, auch wenn sie sich nach einiger Zeit von selbst verstehen, doch nichts Naturgegebenes sind.

Haltungen, könnte man sagen, sind Wertsetzungen, bei denen die Praxis als Reaktion auf eine dauerhaft schwierige Lage der Diskussion über die ideale Welt vorausgeht. Erst wird ein bestimmtes Verhalten etabliert, dann wird es als Wert verklärt. Erst wird gearbeitet, dann wird der Goldklumpen gewogen. In den Haltungen erkennt man die unauffällige Macht der Werte, die tyrannisch wirken kann, aber nicht muss.

Die wichtigste Haltung des Menschen im Zusammenleben mit anderen Menschen ist die Liebe. Das hat die christliche Religion unmissverständlich ausgesprochen. Wer nicht liebend in der Welt wirkt, erreicht nichts. Er wird sich selber auf lange Sicht nicht nützen und anderen nicht einmal kurzfristig. Er mag tüchtig sein, voll der richtigen Ideen, intelligent und wendig. Es ist alles nichts. Eine weitere wichtige Haltung ist der Mut, der dafür sorgt, dass sich einer stets so zu verhalten traut, wie die Liebe es ihm nahe legt. Desgleichen gehört Ausdauer dazu. Ehrlichkeit und Mut können erforderlich sein, um liebend Dinge zu tun , die vermeintlich liebender Fürsorge widersprechen. Zuverlässig zu sein ist eine Haltung, an der manch einer am ehesten erfährt, wie schwer es sein kann, ihr zu entsprechen. Sollte es nicht menschlich sein, das alles zu einem guten Teil fallen zu lassen?

Aber wie das so ist beim Gepäckabwerfen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, damit aufzuhören. Wenn der Vorgang allein, ohne dass gefragt wird, wie sinnvoll er ist, einen Vorteil verschafft, gibt es bald ein Wettrennen um solche Vorteile. Und der Findigste entdeckt rasch, dass man als nicht- selbstverständlich ausgeben kann, was vorher als selbstverständlich galt.

Was solcherart frivol abgeschafft wird, lässt sich dann freilich nicht so leicht wieder einführen, auch wenn es als sinnvoll erkannt ist. Es fehlt das Gütesiegel der Unmerklichkeit des Selbstverständlichen.

Aber es wird, wenn solche Haltungen prinzipiell aufhören, erwartbar zu sein, Vertrauen zerstört. Es wird so die Abschaffung einer Instanz des privaten wie des öffentlichen Lebens betrieben. Mit der Beschädigung des Vertrauens wird, um mit dem Soziologen Niklas Luhmann zu sprechen, eine Chance zur Reduktion von Komplexität in der zugleich immer unübersichtlicher werdenden Welt vergeben. Mit der Rolle, die „Vertrauen“ für den Rang eines Gemeinwesens spielt, befindet man sich aber schon wieder im Diskussionsbereich der Werte, nun freilich verstanden als Bilder für Haltungen: Liebesfähigkeit und Liebesbereitschaft, Tapferkeit und Unerschrockenheit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, Bereitschaft und Können, in allen Dingen Maß zu halten.

Eine Debatte über so verstandene Werte, über Grundwerte gar, kann nicht souverän geführt werden, wenn in ihr sogleich mit der Drohung gerechnet werden muss, sie bereite gewollt oder unbeabsichtigt so etwas wie eine Tyrannei der Werte vor. Es ist auch wenig sinnvoll, auf das hinzuweisen, was sich von selbst versteht, denn wenn das abrufbar wäre, brauchte es den Hinweis nicht.

Was die Erörterung der Werte als Voraussetzung braucht, ist das Lob der Mühe, die Haltungen – auch das Lieben – bereiten können, und eine Verachtung der Bequemlichkeit. Herakles am Scheidewege hatte sich nicht für oder gegen Werte zu entscheiden, sondern für oder gegen ein Leben in süßem Nichtstun oder eines mit Arbeit und Plagen. Für beispielhaft in der europäischen Bildungsgeschichte gilt, dass er sich für Letzteres entschied.