: Das Kauf-Nirwana bei New York
Ein potemkinsches Dorf aus nichts als 220 Ladengeschäften und Blumenbeeten auf 78.000 Quadratmetern ist die Woodbury Shopping Mall. 10.000 Angestellte und 22 Polizisten wachen hier über Kunden und Kreditkartenbetrüger
von ADRIENNE WOLTERSDORF
Das Gerücht hält sich hartnäckig: Die Woodbury Shopping Mall ist die meistbesuchte Touristenattraktion New Yorks. Das geben mir die verschiedenen Freunde ernst nickend mit auf den Weg. Am Samstagmorgen geht es hinaus mit dem Auto aus dem Häuserozean New Yorks. Die Reise beginnt mit einem weiten Blick über den Hudson, der sich unter der George-Washington-Brücke träge breit macht. Den Stadtteil Bronx im Rücken, erscheint schon das Ufer in New Jersey als eine andere Welt. Bäume krallen sich auf dem felsigen Ufer fest, weit und breit kaum ein Haus zu sehen. Eine Autostunde lang geht es im US-Bundesstaat New York hoch nach Norden. Vorbeirollend an Hügeln, auf denen ein sich selbst überlassener Wald steht. Dann kommt links der Bären-Berg, Bear Mountain, und wenig später tauchen die ersten Hinweisschilder auf: „Woodbury Common Premium Outlets“.
Vor und hinter mir auf den beiden Fahrspuren Familien in ihren schlingernden Familienkutschen. Dazwischen zwei Busse mit Shoppern, wie sich gleich herausstellt. Premium Outlets. Ist das nicht ein Widerspruch in sich, überlege ich. „Premium“ ist die Spitzenauslese. Steht „Outlet“ hingegen nicht für 2B-Ware, mit Nähfehlern aussortierte Hosen und T-Shirts? Angekommen in der Attraktion stehe ich im Stau. Es dauert eine Viertelstunde, bis ich im Bereich „Lila“ einen Parkplatz besetzen kann. Um diese Mittagsstunde sind Blau, Gelb, Rot und Grün längst wegen Überfüllung gesperrt. Eine Frau hastet mit vollen Tüten zu ihrem Auto und erklärt mehreren Fahrern, die noch nach Parkplätzen suchen: „Nein, ich fahre noch nicht weg, es gibt da drin noch so vieles, unglaublich Tolles, ich bringe nur die erste Fuhre ins Auto.“
Jagdfieber verbreitet sich auf der Teerfläche. „Da drin“, das ist eine kleine Stadt aus grau-weißen Giebelhäusern verschiedener Größen, ein Traum aus einer Orwell’schen Filmkulisse. Ein potemkinsches Dorf aus nichts als 220 Ladengeschäften und Blumenbeeten auf 78.000 Quadratmetern. Durch sie führen Zonen, die so saftige Namen haben wie Roter Apfel, Weintraube oder Immergrün. Im der Sprache der Shopping-Mall-Architektur gesagt, ist Woodbury ein Laden- Cluster. Die neue Generation von Malls eben, die einst in den 50er-Jahren als U-Förmige Ladenreihen starteten. Hier gibt es keine „Anchor stores“, keine Leuchtturm-Läden, für die man alleine schon hierher fahren würde. Zwischen Chanel und Gap herrscht Gleichberechtigung. „Mall rats“ sind hier unbekannt. So nennen die Amerikaner Menschen, die den ganzen Tag in Einkaufszentren herumlungern, ohne einzukaufen. Auch „Mall walking“, das beliebte Gehtraining in Malls vor oder nach den Öffnungszeiten, findet hier nicht statt. Denn Woodbury steht mitten in der Pampa.
Jeden Morgen strömen an die 10.000 Angestellte in das Kunstgebilde aus Kaufland und Kirmes. Ihnen folgen dann im Tagesverlauf bis zu 100.000 Schnäppchenjagende. Was aus der Perspektive der Parkplätze aussieht wie ein Rummelplatz von hinten, verwandelt sich, kaum ist man „drin“, in eine der gängigen Suburbs, wie sie Amerika von New York bis San Francisco kennt.
Ich entscheide mich zunächst für den Weintrauben-Boulevard, den mit den großen Namen Dolce & Gabbana, Ferraud, Boss, La Perla, MaxMara, Quiksilver, Saks Fith Avenue, Barneys, Yves Saint Laurent. Alles ist mehrsprachig beschriftet: Englisch, Spanisch, Chinesisch oder Japanisch. Bei Yves Saint Laurent jongliert eine Verkäuferin mit Kleidungsstücken, Kreditkarten und übergroßen Papiertüten. Eine Busladung Japanerinnen durchwühlt leise kommunizierend Tom Fords 2005er Sommerkollektion, die zum Teil um 60 Prozent reduziert ist. Bestickte Stulpenstiefel mit farbig lackierten Absätzen, hauchdünne Sommerblusen und knackig grüne Hosen. Bei Dolce & Gabbana werden noch neue Lieferungen T-Shirts und Hosen in allen Farben ausgepackt. Im Shop der Diane von Fürstenberg, der Deutschen, die in New York das „kleine Schwarze“ erfand, vergesse ich, dass ich hier im Factory Outlet No. 1 der USA bin.
Geschmackvolle Couture-Kleider in Creme bis Weinrot hängen, bis zu 50 Prozent reduziert, von einfachen Stangen. Das Billigste unter ihnen um die 300 Dollar. Die Hochzeitskleider bei Caroline Herrera sind eine Heirat wert. Eines, das allerdings aussieht, als habe man damit den Ladenboden geputzt, ist heruntergesetzt von 3.490 auf 357 Dollar. Da kann sich die Braut die Reinigung noch glatt leisten. Marken wie Louis Vitton und Hermès sind nicht vertreten. Man sagt mir, die würden ihre Überschüsse lieber vernichten, als sie in Outlets zu verramschen.
Während in den Designer-Läden noch kontrolliertes Shoppen angesagt ist, tobt bei Puma und Gap die Stampede. Es ist mittlerweile 16 Uhr, und Berge an T-Shirts, Turnschuhen und Kapuzenjacken scheinen sich, in geologischer kürzester Zeit, zu Gerölllandschaften auf dem Boden verkrümelt zu haben. Kopfhörer-bestückte Verkäuferinnen, kaum älter als 20, haben das Aufräumen offensichtlich aufgegeben. Vor der Kasse stehen Teenager und Erwachsene Schlange und chillen ihren Kaufrausch im Takt der Kasse aus. Dabei scheinen die hier angebotenen T-Shirts kaum billiger als in den Läden von Manhattan zu sein. Im Internet lese ich später, dass Gap eine eigens für die Factory-Outlet-Läden bestimmte Produktionslinie hat, mit eingewebten Fehlern sozusagen. Nach Gap brauche ich eine Pause. Die Füße brennen und mein Magen verlangt nach etwas, das mich Amerika wieder gewogen macht.
Drinnen im zentral gelegenen „Food Court“ überraschen die ewig bekannten Marken: McDonald’s, PizzaHut, Quiznos, dazwischen ein Laden für Gourmet- Küchenutensilien. Ich frage mich, ob die mexikanische Familie, die mit Tacos-beladenen Tabletts verzweifelt versucht einige bekleckerte Plastikstühle zu ergattern, jemals einen Dekantierer für 115 Dollar erstehen wird. An einem Infostand drängeln sich die neuen Besucher. Die, die kein Auto besitzen, buchen hier den Bustransfer zurück nach New York, für 35 Dollar eine Strecke. Nahezu stündlich pendeln mehrere Buslinien zwischen dem New Yorker Hafen und dem Shoppingparadies hin und her. Dass dieses niedliche Outlet-Dorf mir das Gefühl gibt, Hauptdarstellerin in der „Truman Show“ zu sein, ändert nichts an der fast prickelnden Realität, dass die Woodbury Outlets zu einem Topziel gut organisierter Ladendiebe und Kreditbetrüger geworden sind.
Ohne dass ich es bemerke, hat das 22-köpfige Police-Department der Kleinstadt Woodbury alles unter Kontrolle. Die Mannschaft ist hochspezialisiert auf Shoplifting. Mit Highspeed-Laptops im Auto haben sie Zugriff auf Datenbanken von Fingerabdrücken und Kreditdelikten. Regelmäßig geben sie den Angestellten Präventionsseminare, wozu sie reichlich Beispiele aus ihrer täglichen Arbeit heranziehen können. Gegen Einbruch der Dunkelheit schleiche ich zu „Lila“, ich fühle mich rechtschaffen müde. Ich bin glücklich, davongekommen zu sein. In wahrer Zen-Manier habe ich mich treiben lassen, statt drangvoll zu suchen. Dabei habe ich das eine oder andere Schnäppchen ergattert. Mein Lieblingsfund: ein wunderbar verarbeitetes Lederportemonnaie von Tumi, heruntergesetzt von 120 auf 40 Dollar.