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Archiv-Artikel

Endlich beginnt die Aufarbeitung

INDONESIEN Ein Bürgermeister bricht ein Tabu: Er entschuldigt sich bei den Opfern der Verfolgung vor 50 Jahren

Rund eine Million Menschen starben. Jetzt werden Opfer- daten erfasst

AUS PALU ANETT KELLER

Rusdy Mastura ist eine Herausforderung für Fotografen. Der 63-jährige Bürgermeister der Großstadt Palu auf der indonesischen Insel Sulawesi scheint nie stillzustehen. Selbst wenn er sitzt, sind seine Hände ständig in Bewegung, schaukelt sein Oberkörper vor und zurück. Seit dem 24. März 2012 interessieren sich Fotografen zunehmend für den Bürgermeister. Damals entschuldigte er sich öffentlich bei den Opfern der blutigen Kommunistenverfolgung in seinem Land Mitte der 60er Jahre. Und brach damit ein noch immer geltendes Tabu.

„Ich finde es falsch, was damals passiert ist. Wir müssen den Menschen die Würde zurückgeben, die ihnen genommen wurde“, sagt Mastura. Damals, 1965, stand Mastura auf der Täterseite. Als 16-jähriger Pfadfinder bewachte er auf Geheiß des Militärs gefangene Kommunisten. „Ich fand es damals gut, dass mir diese Aufgabe übertragen wurde. Die Gefangenen waren uns als Verräter und Ungläubige beschrieben worden. Dass der Staat uns Jugendlichen eine so verantwortungsvolle Aufgabe übertrug, erfüllte uns mit Stolz“, erinnert sich Mastura.

Indonesien hatte bis 1965 die drittgrößte kommunistische Partei (PKI) der Welt. Sukarno, Indonesiens erster Präsident, räumte der PKI aus westlicher Sicht zu viel Raum ein. Nach einem Putschversuch am Morgen des 1. Oktober 1965, den Suharto, damals Oberbefehlshaber des Strategischen Reservekommandos und später jahrzehntelang Präsident, der PKI anlastete, folgte eine Hetzjagd, die zu den schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts gehört. Rund eine Million Menschen wurden umgebracht. Hunderttausende kamen ins Gefängnis, länger als ein Jahrzehnt und ohne Gerichtsverfahren. Suharto ergriff – massiv unterstützt von westlichen Regierungen – die Macht und schrieb drei Jahrzehnte lang seine Geschichtsversion und die Angst vor dem Kommunismus ins öffentliche Bewusstsein ein.

Seit Suhartos Rücktritt 1998 können sich die Opfer zwar Gehör verschaffen. Im Juli 2012 stufte die Nationale Menschenrechtskommission (Komnas HAM) die Kommunistenverfolgung als „schwere Menschenrechtsverletzung“ ein. Doch es gab keine Rehabilitierung für die Opfer. Sie, ihre Kinder und Enkel bleiben stigmatisiert. Eine immer wieder geforderte Entschuldigung von Indonesiens Präsident Susilo Bambang Yudhoyono steht aus.

Einer der damals Gefangenen und später Ermordeten war Rahman Maselo, Erster Sekretär der PKI von Zentralsulawesi. Sein Sohn, Gagarisman, sitzt nun, 48 Jahre später, neben Bürgermeister Mastura im Hof des Goethe-Instituts in Jakarta. Beide stellen hier gemeinsam das Buch „Sulawesi bersaksi“ – „Sulawesi legt Zeugnis ab“ vor. Als der Vater abgeholt wurde, war Gagarisman vier Jahre alt. „Ich sah, wie er sich von meiner Mutter verabschiedete. Als der Jeep mit ihm losfuhr, rannte ich hinterher, so schnell ich konnte. ‚Ich will mit!‘, schrie ich weinend.“ Jahrzehntelang versuchte Gagarismans Mutter herauszufinden, was mit ihrem Mann geschehen war – bis 2005 ein Exmilitär, der Teil von Maselos Erschießungskommando war, Kontakt zu ihnen aufnahm.

Der Dialog zwischen Tätern und Opfern wurde vor allem durch die akribische Arbeit der lokalen NGO Solidarität mit den Opfern von Menschenrechtsverletzungen (SPK HAM) gefördert, die mehr als 1.200 Opfererzählungen zusammengetragen hat. Einige davon sind nun im Buch „Sulawesi legt Zeugnis ab“ erschienen. Herausgeber ist der Schriftsteller Putu Oka Sukanta, der wegen angeblich kommunistischer Umtriebe selbst zehn Jahre im Gefängnis verbrachte.

Nurlaela Lamasitudju von SPK HAM ist eine der Autorinnen. Die 34-Jährige hat als Jugendliche einen blutigen Konflikt in Zentralsulawesi miterlebt. Das habe sie dazu gebracht, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen. „Wenn die Regierung schon halbherzig ist, dürfen wir es nicht auch noch sein“, begründet Lamasitudju ihre Motivation.

Nach der Entschuldigung des Bürgermeisters sollen Entschädigungsprogramme für die Opfer folgen. Doch für deren genaue Formulierung braucht es einen gesetzlichen Rahmen auf nationaler Ebene. Andere Lokalregierungen seien mit der Initiative von Mastura nicht einverstanden, so Lamasitudju. Auch in Palu selbst sei es noch immer schwer, Behörden zu vermitteln, warum die damals Verfolgten Opfer sind.

Immerhin, so Lamasitudju, sei es ihrer NGO inzwischen gelungen, Treffen zwischen Vertretern von Komnas HAM, Polizei, Militär und Regierungsvertretern bis auf Dorfebene zu organisieren und gemeinsam Opferdaten zu verifizieren.

Indonesiens Zivilgesellschaft ringt um den Umgang mit der Vergangenheit. Selbst unter den Opfern gibt es keine Einigkeit darüber, welcher Weg dafür der richtige ist. Gerichtsverfahren oder eine Wahrheitskommission à la Südafrika?

Forschung und zivilgesellschaftliches Engagement sind zudem auf die Hauptschauplätze der Verfolgung konzentriert, auf Java, Bali und Sumatra. „Wir bräuchten viel mehr detaillierte Forschung, aber das ist genau das, was unsere Regierung verhindert“, sagt der Historiker Hilmar Farid. „Sie hat noch immer Angst vor einem Phantom, das sie selbst geschaffen hat.“