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Archiv-Artikel

Labour war gestern

WAHLKAMPF Die Parlamentswahl ist diesmal eine zwischen liberal und konservativ, die Sozialdemokraten sind raus aus dem Spiel

AUS SÜDENGLAND DOMINIC JOHNSON

Es ist Wahlkampf, und auf hunderten Kilometern Fahrt durch den satten, grünen Süden Englands ist kein einziges Wahlplakat der regierenden Labour-Partei zu sehen. Auf Großplakaten tauchen die oppositionellen Konservativen flächendeckend die Nationalflagge in mildes Frühlingslicht, davor steht „Vote For Change – Vote Conservative“ (Wählt den Wandel, wählt konservativ).

Konservative Wahlkreiskandidaten werben für sich in warmem Blau-Grün. Das Orange der Liberaldemokraten taucht auch oft auf, vereinzelt die antieuropäische rechte UKIP (United Kingdom Independence Party) in schrillem Gelb-Lila, und ganz vereinzelt die Grünen, in Grün. Labour? Rot? Fehlanzeige.

Im englischen Kernland ist dies eine Wahl zwischen konservativ und liberal, so wie zuletzt vor hundert Jahren. Die Konservativen sehen sich als zukünftige Regierung, die Liberalen forsch als zukünftige Opposition. Labour ist bloß die ehemalige Regierung, zurückgeworfen auf ein paar Städte. Die üblichen Loyalitätsbekundungen der Parteianhänger in Form kleiner Poster an den Fenstern sind rar geworden. Aber nicht aus Politikverdrossenheit. Die Leute diskutieren eifrig wie selten. Sie wollen genau wissen, wen sie da wählen, denn sie trauen keinem mehr.

Soziale Verödung

In Herefordshire, wo Westenglands sanfte, grüne Hügel in die kahlen Berglandschaften von Wales übergehen, spielte Labour nie eine Rolle. Die Politik reicht von den Konservativen, politischer Arm des Grundbesitzes und der Kirche, bis zu den Liberalen, Vertreter des Bürgertums. Veränderung kam in den 1980er-Jahren, als die Thatcher-Ära Englands schläfrigen Konservatismus aufrüttelte. In der Grafschaftshauptstadt Hereford mit ihren 60.000 Einwohnern, Zentrum der Cider-Industrie und Hauptquartier des britischen Eliteregiments SAS, entstand eine mondäne Stadtmitte mit Vielfalt und Kultur. Die Liberaldemokraten gewannen den Wahlkreis 1997.

Aber heute herrscht Katzenjammer. In Herefords Fußgängerzone reiht sich ein aufgegebenes Geschäft ans nächste. Lara Latcham, die mit ihrer sozialen Organisation „Kindle“ Jugendprojekte organisiert, erzählt in einem italienischen Restaurant von Grundstücksspekulanten und sozialen Spannungen. Vergangenes Jahr starb ein einheimischer Jugendlicher bei einer Schlägerei mit osteuropäischen Immigranten, einige Kneipen verhängten Eintrittsverbot für Osteuropäer so wie früher für Zigeuner.

Was tut Herefords konservative Stadtverwaltung? Sie plant ein riesiges Einkaufs- und Bürozentrum auf dem bisherigen Gelände des Viehmarkts und des lokalen Fußballvereins. Entsetzte Basisgruppen fürchten eine Verödung des historischen Stadtkerns und sammeln Unterschriften. Und nun, im Wahlkampf 2010, ist ausgerechnet der konservative Kandidat Jesse Norman gegen das Bauprojekt, und die Liberaldemokraten sind dafür. Prominente lokale Liberale unterstützen deswegen Norman. Sogar Labour-Wähler erwägen den Überlauf zu den Konservativen. Der nationale Wahlkampf spielt keine Rolle. Es geht um die Zukunft der Stadt.

Rund 50 Kilometer weiter nördlich, in Englands dünn besiedeltem Wahlkreis Ludlow, sind die Hügel weitläufig und entrückt. Im malerischen Dorf Bishop’s Castle liegt das Wirtshaus Three Tuns mit eigener Brauerei. Es stammt aus dem Jahr 1642, ist also relativ jung. Auf der Speisekarte stehen dennoch jamaikanischer Hühnchensalat und Thai-Curry. Das einzige Wahlplakat auf der Hauptstraße gehört den Grünen. Wie viele englische Dörfer ist Bishop’s Castle gespalten zwischen Tätern und Opfern der Gentrifizierung.

Im Three Tuns findet eine typische Wahlkampfveranstaltung statt. In anderen Ländern laden die Parteien die Bürger – in Großbritannien laden die Bürger die Parteien. Alle Wahlkreiskandidaten sitzen auf dem Podium und stellen sich Fragen aus dem Publikum. Die rund 150 Bürger auf den Bänken des alten Saals mit dunkler Holzdecke wollen genau wissen, was die Parteiprogramme für diesen Ort bedeuten. Ihre Sonntagsanzüge und tief gefurchten Bauerngesichter strahlen Würde aus und zeugen von harter Arbeit.

Im Vergleich wirken die Politiker auf der Bühne wie schlechte Jobaspiranten. Der zur Wiederwahl anstehende Konservative Philip Dunne, ein Bauer aus der Region, steht ungekämmt und ohne Krawatte vor dem Publikum. Er will hemdsärmelig aussehen, wirkt aber eher unvorbereitet. „Dies ist die wichtigste Wahl seit einer Generation“, sagt er und macht ein gelangweiltes Gesicht. Dunne beendete 2005 ein vierjähriges Intermezzo der Liberaldemokraten, die 2001 überraschend Ludlow gewonnen hatten, nachdem der langjährige konservative Abgeordnete Christopher Gill zur UKIP übergelaufen war. Der alte Gill spielt den Exzentriker. Als er nach einer Frage als Erster aufsteht, fragt ihn der Moderator, ob er eine Antwort hat. „Nein!“ bellt Gill.

Viel zu sagen haben auch die anderen nicht. Die Liberaldemokratin Heather Kidd, eine Lehrerin, verwickelt sich in Widersprüche. Der chancenlose Labour-Kandidat Phil Hunt schließlich sieht viel jünger aus als 30, und auf die Frage, ob er sich eine Koalitionsregierung vorstellen könnte, sagt er: „Ach, ich fahre nächste Woche nach Belize.“ Der Moderator, ein listiger alter Gentleman mit schlohweißem Haar, will vom Publikum wissen, ob die Fragesteller aus den Antworten etwas gelernt haben. „Ich habe gelernt, dass sie alle ausweichen“, erwidert einer.

Die berühmte Universitätsstadt Cambridge müsste für die Liberaldemokraten eigentlich ein Heimspiel sein. Hier studierte ihr Führer Nick Clegg, hier ist Englands Wissenschaftselite zu Hause. Seit 2005 saß für Cambridge der angesehene liberale Menschenrechtsjurist David Howarth im Unterhaus. Aber er tritt nicht mehr an. Sein Nachfolger Julian Huppert, Krebsforscher, verfügt nicht über Howarths Charisma. Auf der Wahlkampfveranstaltung vor gut 200 Menschen in der vollbesetzten Kirche St Barnabas redet er zu schnell, er wirkt übereifrig. Labour hat einen grauhaarigen Herrn im grauen Anzug mit grauer Krawatte aufgestellt, der bemüht erklärt, er sei „leidenschaftlich“. Der junge Konservative Nick Hillman spielt den Clown und sagt: „Wir haben in allen wirklich großen Fragen immer recht gehabt“, so locker, dass auch seine Gegner schmunzeln. Der Überraschungskandidat hier ist der Grüne Tony Juniper. Der ehemalige Direktor der Umweltorganisation Friends of the Earth und Strippenzieher der aktuellen Klimaschutzgesetze strahlt trotz Erschöpfung Autorität aus. Für ihn ist das Lokale sofort global. Er will sich um die „unglaublichen Herausforderungen“ der Erde kümmern: „Klimaschutz, Artenschutz, Wirtschaftskrise.“

Grünes Cambridge

So etwas passt zu Cambridge, und in einer Umfrage im April lag Juniper plötzlich vorn. Was zieht die Wähler zu ihm? „Die anderen drei“, antwortet er, ohne zu zögern. Das macht die Liberaldemokraten fuchsig. Die Umfrage vom April sei manipuliert, flüstert eine Gemeinderätin. Die Wahl in Cambridge werde allein zwischen Liberalen und Labour entschieden, heißt es in ihrer letzten Wurfsendung. Das ärgert Grüne und Konservative. Von ihnen hört man: Die aufstrebende dritte Kraft ist fundamental unlauter. Die Liberaldemokraten definieren sich immer nur opportunistisch gegen die anderen, nie aus sich selbst heraus. Dieser Vorwurf, den man nicht nur in Cambridge hört, könnte den kometenhaften Aufstieg der Liberaldemokraten noch stoppen.

Das Dörfchen Reach ist ein ehemaliger Binnenhafen an Ostenglands Wasserwegen. Am Dorfplatz hat ein ehemaliger Konservativer, der jetzt als Parteiloser kandidiert, sein Haus mit den eigenen Wahlplakaten gepflastert. In Reach wird seit 1201 Englands ältestes Maifest jeweils am ersten Montag im Mai vom Bürgermeister von Cambridge feierlich eröffnet. Im Konvoi sind die Stadtväter aufs Dorf gefahren, und wie vor 800 Jahren werfen sie mit Münzen um sich, die von den Kindern eifrig aufgesammelt werden.

In roter Robe, mit schwarzem Hut und schwerer, goldener Amtskette tritt der Bürgermeister auf eine kleine Anhöhe, begleitet von seinem Standartenträger und dem Ausrufer. Dieser schwingt eine große Glocke. „Oh ja! Oh ja! Oh ja!“, brüllt er ohne Mikrofon über den Platz. Stille fällt über die Menge. Das Fest ist eröffnet. „Wer sich ungezogen benimmt, möge gehen, oder es gibt Gefängnis!“, schreit der Ausrufer. Die Kinder gucken erwartungsvoll. Dann singen alle „God Save The Queen“.

Es ist reine Tradition, mit Tanz um den Maibaum zu mittelalterlicher Geigenmusik, und reines Theater. Wahlen? Kein Thema. Nur bei den Tischreden nach dem Festessen erlaubt sich eine Rednerin den Hinweis, dass das Maifest früher auch einen Tiermarkt hatte. „Und Kuhhandel wird ja bald wieder Mode.“