: Der nackte Körper verändert alles
Peter Zadek hat den zweiten Teil seiner Autobiografie vorgelegt. Im Zentrum von „Die heißen Jahre“ stehen seine Experimente der 70er-Jahre
Wenn irgendwo im Theater über die Lagerbildung zwischen Alt und Jung diskutiert wird, fällt der Name Peter Zadek garantiert bald. Als der Regisseur 1998 ein Stück von Sarah Kane inszenierte, kam jemand auf die Idee, es sollten künftig nur die jungen Regisseure für die neuen Stücke und nur die alten für die Klassiker zuständig sein. Meistens sind es aber seine eigenen Äußerungen, mit denen Zadek das Theater in die gespreizte Alternative treibt. Die Arbeiten der jüngeren Generation beschimpft er gern als plump und stilisiert, theoretisch und abstrakt oder rundum als dumm und unbegabt. Das hat ihm im Gegenzug den Generalverdacht eingebracht, mit den pseudorebellischen Tiraden die mangelnde Gegenwärtigkeit seiner eigenen Arbeiten übertönen zu wollen.
Dieser Verdacht wird durch den zweiten Teil seiner Autobiografie einerseits bestätigt – und führt gleichzeitig weit davon weg. Lange ging es in Zadeks Theater nicht mehr so spritzig, spannend und gegenwartsnah zu wie in dem Band „Die heißen Jahre“, der pünktlich zu seinem achtzigsten Geburtstag erscheint. Statt großmäulig über andere vom Leder zu ziehen, schreibt er mit Genauigkeit und saloppem Understatement über seine Arbeit, ohne die Zeit vor dem inneren Auge unzulässig zu verklären.
Das ist kein Ausdruck von Altersmilde. Die Autobiografie basiert auf Gesprächen, die Helge Malchow bereits Mitte der 90er-Jahre mit ihm führte. Seine langjährige Lebens- und Arbeitspartnerin Elisabeth Plessen formte mit am vermittelnden Ton, und die Zeit, die belebt wird, sind jene 70er-Jahre, als Zadek um die Fortentwicklung des Theater sehr ernsthaft bemüht war.
„Die heißen Jahre“ beginnen, wie es sich für Erinnerungen gehört, mit der Geburt des Erzählers. Nicht mit jener am 19. Mai 1926 in einem bürgerlichen Mietshaus in Berlin-Wilmersdorf, von wo die jüdische Familie 1933 nach England emigrierte. Sondern mit der 1972 in Bochum. Zadek wird Intendant am traditionsreichen, aber abgetakelten Schauspielhaus, das er durch Ausweitung des Theaterbegriffs neu erfindet: Themen-Wochenenden, wie sie heute die Spielpläne bevölkern, Fernsehen im Theater und Falladas „Kleiner Mann, was nun?“ als großes Eröffnungsstück. Wahrscheinlich die erfolgreichste Romanadaption, bevor später allen voran Frank Castorf in komplexeren Prosa-Stoffen nach mehr Wirklichkeitsnähe suchte.
400 Seiten umfasst das Buch. Viele Details kennt man bereits aus „My Way“, der 1998 erschienenen Autobiografie. Beide Bücher ergeben zusammen 1.000 Seiten. Ein wortlastiger Rahmen, der sich kurzweiliger liest, als die Zahl suggeriert, und eine Metapher für Zadeks Theater, das aus Sprache geboren ist.
Das andere Zentrum sind die Schauspieler. Von ihnen spricht das Buch vor allem. In Bochum wird es zu Zadeks Markenzeichen, die Inszenierungen gemeinsam in größtmöglicher Freiheit zu erarbeiten. Innerlich und äußerlich müssen die Schauspieler nicht mehr die bestehenden Rollenbilder erfüllen. Ulrich Wildgruber oder Eva Mattes verkörpern jene entfesselte Präsenz, die stets mehr ist als das Ergebnis der Regie. Und zum ersten Mal bedeutet die Anwesenheit von Schauspielern auf der Bühne, dass jeder Einzelne permanent empfindet, denkt, plant, konspiriert und Spannung hält.
Aus Details und Anekdoten wächst im Buch ein Porträt zutiefst gültiger Arbeitsprinzipien heraus. Dass heute, dreißig Jahre später, andere Regisseure daraus produktive Funken schlagen, stört die Lektüre nicht. „Nacktheit, Körper, Sexualität – unser Theater ist ein angezogenes Theater, in dem Sinn ist es erzogen“, schreibt Zadek im Abschnitt über seinen legendären „Othello“ in Hamburg. „Der nackte Körper und die Anwesenheit des nackten Körpers, auch die Sicht darauf verändert alles.“ Das weist auf eine zeitgenössische Inszenierung, an der sich heute die Geister scheiden: Jürgen Goschs „Macbeth“-Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus. Sieben Schauspieler, nackt, anarchisch, dreckig. Körper in einer Haltung zwischen Jämmerlichkeit und Rohheit, wie es einem bis dahin unspielbar vorkam. Vielleicht das „Othello“-Gefühl von heute.
SIMONE KAEMPF
Peter Zadek: „Die heißen Jahre“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 425 Seiten, 22,90 €