onkel antonin von JOACHIM SCHULZ
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Mein Onkel Antonin war stocktaub. Zumindest behauptete er das. Er hatte 36 Jahre lang als Schweißer auf einer Werft gearbeitet, als eines Tages ein – so nannte er das – „Mallöhr“ passierte: Er gab gerade den Schweißnähten im Bug eines Frachterrohbaus den letzten Schliff, als 20 Meter über ihm ein Kranseil riss, an dem eine tonnenschwere Stahlplatte hing. Die Platte knallte auf das Vorderdeck des Rohbaus, wobei wie durch ein Wunder niemand getroffen und plattgedrückt wurde. Im Inneren des Schiffes aber nahm doch jemand Schaden, denn als die Stahlplatte auf das Vorderdeck aufschlug, erschallte im Schiffsbug ein überirdisches „Gonnnggg!“, und fortan war Onkel Antonin taub. Taub wie eine alte, verschrumpelte Walnuss.

Aber man glaubte ihm nicht und hielt ihn für einen Simulanten. „Dat givv‘t doch nich!“, brummelte sein Vorarbeiter und schickte ihn zum Betriebsarzt. Der grinste höhnisch, denn er hatte schon viele kleine Gauner entlarvt. Er unterzog meinen Onkel den einschlägigen Tests, griff, als sie nicht zu dem gewünschten Ergebnis führten, zu einer Reihe von hinterhältigen Tricks, ließ auf Empfehlung der Unfallversicherungsanstalt einen Spezialisten aus Hannover anreisen, der die neuesten Methoden zur Überführung ausgekochter Rosstäuscher kannte – doch entweder war Onkel Antonin wirklich taub wie ein verstopftes Abflussrohr, oder er war schlicht der cleverste Schwindler, der jemals zwei Gutachter hinters Licht zu führen versuchte: Kein halbes Jahr später wurde er für berufsunfähig erklärt und – ausgestattet mit einer beträchtlichen Rente – vorzeitig pensioniert.

Obwohl er aber das ärztliche Attest an die Wohnzimmerwand hängte, gab es immer noch jemanden, der ihm nicht glaubte: Seine Frau. „He tünt!“, sagte Tante Gesine, und ins Hochdeutsche synchronisiert lautet dieser Satz: „Er lügt!“ Tante Gesines wesentliche Abendbeschäftigung bestand darin, ihrem Gatten alle Klatschgeschichten zu erzählen, die sie tagsüber aufgeschnappt hatte. Sie redete ohne Punkt und Komma, und sie hatte viel zu berichten, denn sie war mit suppentellergroßen Ohren beim Bäcker und beim Fleischer, beim Schuster und auf dem Wochenmarkt gewesen. Auch sie versuchte, Antonin mit den perfidesten Maßnahmen der Flunkerei zu überführen, ließ während seines Mittagsschlafs den Staubsauger neben dem Kopfende des Sofas aufheulen und schlich sich, als er ein Silbenrätsel löste, von hinten an ihn heran, um eine aufgeblasene Brötchentüte zu zerknallen. Onkel Antonin aber blieb regungslos wie eine Bronzeskulptur und gab nicht den leisesten Mucks des Erschreckens von sich.

Tante Gesine beharrte trotzdem auf ihrer Meinung. „Ick glööv dat nich!“, sagte sie und setzte ihn abends weiterhin in stundenlangen Erzählungen über die Geschichten in Kenntnis, die sie tagsüber gehört hatte. Es störte sie nicht, dass Antonin schmunzelte, während sie palaverte und räsonierte. Jeder andere aber, der ihren Ehemann lächeln sah, lächeln wie einen glücklichen Menschen, jeder andere wusste, dass es für dieses Lächeln nur eine vernünftige Erklärung gab: dass nämlich mein Onkel tatsächlich taub war, taub wie eine alte, verschrumpelte Walnuss.