Gegen die Ansprüche der Ehre

Der Überfall auf einen dunkelhäutigen Deutschen in Potsdam und der Mord an Hatun Sürücü müssen zu einer einzigen Schlussfolgerung führen: Nulltoleranz. Sie erfordert eine gesellschaftliche und kulturelle Anstrengung

Es gibt nicht nur kurdische Gewalttäter, sondern aucheine verwahrloste ethnisch deutsche Jugend

VON ZAFER SENOCAK

Der Überfall auf einen dunkelhäutigen Deutschen in Potsdam und der Mord an Hatun Sürücü, was haben sie gemeinsam? Exemplarisch steht der Mord an Hatun Sürücü für den Konflikt zweier Werte, den Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen. Ehre und Würde, die archaische Interpretation einer Gesetzesreligion und die säkularisierte, aufgeklärte Gesellschaft, in diesem Fall scheinen sie nicht vereinbar. Offensichtlich die Würdelosigkeit eines Ehrbegriffs, der Menschenleben nicht achtet, das individuelle Recht auf Selbstbestimmung nicht anerkennt. Würdelos die Tat selbst, der Mord an der Schwester, begangen vom eigenen Bruder, die Selbstjustiz, die kaltblütige Hinrichtung.

Würdelos aber auch die Reaktion der restlichen Familie, die offensichtlich die Tat billigt, die jubelt, nach dem Freispruch für die älteren Brüder. Der jüngste soll es allein getan haben. Länger als neun Jahre muss er jetzt dafür hinter Gitter, anscheinend wird auch das bejubelt. In der Türkei hätte es für diese Tat gut und gerne zwanzig Jahre gegeben. Ist auch das Gesetz des Rechtsstaates würdelos? Das Gesetz, welches das Leben einer jungen Frau und das Schicksal ihres Kindes, das nun ohne Mutter aufwachsen muss, so billig macht. Doch gibt es nicht auch so etwas wie die unantastbare Würde des Täters? Nicht zufällig gibt es ein Jugendstrafrecht, wurde die Todesstrafe, auch für die abscheulichste Tat, abgeschafft.

Die archaischen Clanstrukturen aus anatolischen Dörfern verpflanzt in deutsche Großstädte, eine ökonomische Notwendigkeit zu Zeiten des wirtschaftlichen Booms. Jetzt offenbar eine Last, plötzlich für jedermann spürbar. Nicht nur ökonomisch, wegen fehlender Arbeitsplätze.

Wie integriert man diese Menschen, die nichts davon verstanden haben, wie eine freie, offene Gesellschaft funktioniert, von Frauenrechten keine Ahnung haben, die Gleichstellung der Geschlechter nicht akzeptieren wollen? Sie haben ihre eigenen Gesetze. Die Familienehre, die über allem steht, auch über der Würde des Menschen, die nach deutschem Grundgesetz unantastbar ist. Die Ehre, das heißt die Obhut des Mannes über den weiblichen Körper, verliert man schnell unter den „Ungläubigen“, in ihrer sexuell entfesselten Welt. Wenn es der Mann ist, der sich verführen lässt von dieser Welt der Sünde und der körperlichen Freizügigkeit, ist das sein Privatproblem. Wenn die Frau aber sich derartiges Recht herausnimmt, geht es jeden an, den Vater, den Onkel, die Brüder, die Nachbarn. Die modische Brille, die der älteste Bruder trägt, gute Deutschkenntnisse und Ausbildung machen aus den Gefangenen archaischer Clanstrukturen noch lange keine Bürger eines demokratischen Gemeinwesens. Im eigenen Kopf sitzt man lebenslänglich.

Sicher lastete auf dem Vater und der ganzen Familie der Blick der anderen.

„Hattet ihr eure Tochter nicht im Griff?“

„Wie konnte so etwas passieren, in einer derart frommen Familie?“

„Welche Schande, welches Unglück!“

Was ist denn passiert, dass ihr töten müsst, fragen sich die unbeteiligten, außenstehenden Einheimischen, aber auch Zuwanderer, die sich hier in Deutschland eingelebt haben. Wie kann so etwas in unserem Land passieren?

Doch in unserem Land passieren eben auch andere Dinge. Da wird beispielsweise ein Mann fast zu Tode geprügelt, weil er eine dunkle Hautfarbe hat. Ist ein „Deutsch-Afrikaner“, wie das Opfer dann in der Presse genannt wird, mehr als ein Deutscher oder weniger? Wie wird man mit dunkler Hautfarbe überhaupt Deutscher? Eine Gesellschaft, die sich schwer tut, die unterschiedlichsten Herkünfte ihrer Angehörigen als Selbstverständlichkeit zu begreifen, wird kaum in der Lage sein, anderen den Begriff der Würde näher zu bringen. Deutet der rassistische Überfall in Potsdam nicht auf ein Problem hin, das unter der Oberfläche des zivilisierten Zusammenlebens sein Unwesen treibt?

Nicht wenige Muslime in Deutschland leben hier, weil sie dachten, sie könnten ihr Leben in diesem freien Land nach den eigenen, als einzig richtigen, weil gottgegebenen, empfundenen Regeln gestalten. In der Türkei ist das nicht so leicht. Denn dort ist seit achtzig Jahren Kulturkampf, zwischen Ehre und Würde, ist die Religion seit Atatürk verdrängt aus dem öffentlichen Leben. Und der Streit darüber, was die Religion vorschreibt und was nicht, ist in vollem Gange. Wie viel von dem, was die Religion vorschreibt, hat noch Bestand in einer modernen Gesellschaft? In der Türkei hat der Streit um Lebensstile nicht nur eine philosophische, sondern auch eine politische, soziale Dimension. Das Kopftuch wird nicht als religiöse Pflichterfüllung gedeutet, sonder als Manifestation einer islamistischen politischen Haltung. Doch dürfen Gerichte in einer säkularen Gesellschaft Urteile über religiöse Fragen fällen? Mit einem Kopftuch dürfen Frauen nicht einmal studieren. Und die Tochter vom Turnunterricht befreien lassen geht auch nicht. Doch die strengen Gesetze des säkularen Staates und das wachende Auge der Militärs deuten auch darauf hin, dass der Kulturkampf noch gar nicht entschieden ist. Der deutsche Rechtsstaat aber, die deutsche Gesellschaft glaubte diesen Kampf, der vor noch gar nicht langer Zeit auch hier unter anderen kulturellen Vorzeichen tobte, gewonnen zu haben.

Doch jetzt trifft sie die Situation unvorbereitet. Wie viel Atatürk, sprich: strenge Trennung von Staat und Kirche braucht der deutsche Rechtsstaat? Wie viel christliche Wurzeln? Auch der liberale Rechtsstaat, der weitgehend ohne Ideologie auskommt, muss seine Bürger auf die Einhaltung von Gesetzen verpflichten, die für alle verbindlich sind. Was also tun?

Begriffe wie „Ehre“, die für uns zu antiquierten Fremdwörtern geworden sind, müssen wir wieder dort abholen, wo sie im Denken und in der Vorstellungskraft jener Menschen, die auf uns so fremd wirken, auch heute noch eine verbindliche Gültigkeit besitzen. Es genügt eben nicht, sie in Büchern nachzuschlagen, sie aus der Ideengeschichte abzuleiten. Wenn der Mensch Besitz von einem Begriff ergriffen hat, projiziert er seine ganzen Ängste, Sehnsüchte, seine Erziehung und den von ihr hervorgerufenen Kodex in diesen Begriff hinein. Diese Projektion macht seine Persönlichkeit aus. Im Falle eines jungen Mannes, der die Waffe auf seine Schwester richtet, weil sie die „Ehre“ der Familie verletzt hat, deutet diese Tat vor allem auf die Unterwerfung unter eine Sexualmoral hin, die der Frau vorschreibt, wie sie ein rechtgeleitetes, sauberes Leben zu führen hat. Verlässt die Frau diesen ihr vorgeschriebenen Weg, haftet sie nicht allein für die Freiheit, die sie sich genommen hat. Denn die Männer, denen sie gehört, verfügen über ihren Körper. Sie entscheiden auch über Leben und Tod.

Und genau dieses Denken ist mit den Grundsätzen einer modernen, demokratischen Gesellschaft nicht vereinbar. Zwischen einem Ehrenmord und einem Mord aus rassistischen Motiven gibt es Parallelen, die aufrütteln müssten. In beiden Fällen wird die Tat aus Beweggründen begangen, denen auch und gerade in einer freien Gesellschaft mit absoluter Nulltoleranz begegnet werden muss.

Sollten wir also das Jugendstrafgesetz abschaffen, die Todesstrafe wieder einführen? Nein. Die Nulltoleranz ist nicht nur eine juristische und polizeiliche Angelegenheit. Es darf hier nicht nur mit den Muskeln des Gesetzes gespielt werden. Die Situation erfordert auch eine gesellschaftliche und kulturelle Anstrengung. Was die Imame von der Kanzel predigen und die Schule jungen Menschen an Werten beizubringen versucht, dies alles muss in Einklang miteinander gebracht werden. Ob das gelingt, hängt im Deutschland des Jahres 2006 nicht mehr allein von den christlichen Kirchen ab, sondern auch von den Muslimen, ob sie es schaffen, die eigene Tradition im kritischen Gegenlicht der Aufklärung zu betrachten. In modernen Gesellschaften mit ihrer rechtlich gesicherten Glaubensvielfalt können Werte nicht allein religiös definiert werden, schon gar nicht aus der Perspektive einer bestimmten Religion.

Es gibt in Deutschland inzwischen viele Parallelgesellschaften, nicht nur die der Zugewanderten. Der Kulturkampf tobt eben nicht zwischen ethnisch definierten Identitäten, nicht zwischen den zur besseren Übersicht eingekreisten Kulturen, sondern innerhalb der, durch unterschiedliche individuelle Wahrnehmungen, zersplitterten Kulturen selbst. Wer für eine demokratische, freie Gesellschaft eintritt, muss einen freiheitlichen Patriotismus entwickeln. Ausgegrenzt werden dann nicht ethnische Gruppen, sondern totalitäre Denkstrukturen.

Zugehörigkeit wird in Deutschland nach wie vor zu stark ethnisch definiert. Es gibt aber nicht nur türkische oder kurdische Gewalttäter, sondern auch eine verwahrloste ethnisch deutsche Jugend, die voller Ressentiments ist gegenüber allem, was für sie fremd erscheint. Und schlimmer noch, es gibt eine Gesellschaft, die den Balken im eigenen Auge nicht wahrnimmt. Eine Gesellschaft kann aber nur dann integrieren, wenn sie offen ist, sich um gemeinsame Werte kümmert und nicht um die Herkunft. Eine Aufgabe, die endlich die Bildungs- und Kulturinstitutionen auf den Plan rufen muss.