: Im Rausch der Millisekunde
SCHWINDEL Kinder drehen und drehen sich und lachen danach. Erwachsene machen dasselbe – und erbrechen. Woher kommt die späte Angst vor dem Karussell? Eine Suche zwischen Neurotransmittern und Angst vor Kontrollverlust
Die Schriftstellerin Lisa Rank darüber, was sie beim Schaukeln fühlt
VON CLAUDIUS PRÖSSER
Die Frau mit den schwarzen Fingernägeln sieht nicht gut aus. „Les Démons de l’Archange“ steht auf ihrem schwarzen Shirt, und so wie sie zittert, könnte sie gerade tatsächlich den Dämonen des Erzengels begegnet sein. Die Wirklichkeit ist prosaischer und bunter: Es war der „Shaker“, ein neonblinkendes Jahrmarkt-Fahrgeschäft, keins von den ganz schlimmen, möchte man meinen. Nebenan auf den „Neuköllner Maientagen“ schleudert die „Jet Force“ zwanzig kreischende Menschen am Dreißig-Meter-Arm in den Himmel. Der Shaker ist eher eine Weiterentwicklung des klassischen Karussells, dessen Fahrgäste gleichzeitig um alle denkbaren Achsen gedreht werden.
Auch Jule und Angie sind gerade aus dem Shaker gestiegen. Jetzt sitzen sie auf den Lochblech-Stufen am Rand und rauchen. Angie ist Jules Mutter, Ende vierzig, auch sie wirkt ein bisschen aufgelöst: „Ich hätte wohl vorher kein Bier trinken sollen.“ Jule ist Anfang zwanzig und hatte einfach nur Spaß. „Ich würde am liebsten gleich nochmal rauf“, beteuert sie. Früher, als sie noch in die Schule ging, hat sie mit ihren Freundinnen Wettbewerbe auf dem Shaker gemacht – „wer sich am häufigsten über Kopf drehen konnte“. Schlecht wird ihr davon nicht.
Fragt man sich durch die eigene Peergroup, Eltern zwischen 35 und 45, ist die Diagnose schnell gestellt: Kinder und Jugendliche lieben den Drehwurm, Erwachsene kommen irgendwann nicht mehr mit. Michaela sagt, ihr wird schon vom Zusehen schlecht, wenn ihre Töchter sich auf dem Kreuzberger Spielplatz-Karussell drehen: „Sollen andere das Ding anschieben.“ Oliver graut es vor Volksfest-Besuchen: „Irgendwann werden meine auf die Achterbahn wollen. Dabei fange ich schon auf dem Kettenkarussell an zu beten.“
Klar: Im Alter werden wir langsamer, fragiler – und uns wird schneller schwindelig. Das heißt: Schwindelig wird den Kleinen auch, aber sie lieben es. Sie suchen den Kick. Ist kein Karussell in der Nähe, drehen sie sich einfach ganz schnell um die eigene Achse, so lange, bis sie wie betrunken durch die Gegend torkeln. Uns Älteren macht das keinen Spaß mehr, vermutlich weil das Gleichgewichtsorgan im Innenohr einrostet, dieses winzige knöcherne System aus Röhren, Bögen und Schnecken, das uns signalisiert, wo oben und wo unten ist.
Unsinn, sagt Michael Strupp. Er muss es wissen, denn er leitet die Schwindelambulanz an der Münchener Uniklinik. Natürlich befasst er sich in der Hauptsache mit pathologischen Gleichgewichtsstörungen, aber dazu gehört auch Grundlagenforschung. „Dass Kinder seltener als Erwachsene bewegungskrank werden, ist ein alter Zopf“, weiß Strupp deshalb. Ein Mythos, ein Gerücht. Es gebe dafür keine wissenschaftlichen Belege. Richtig ist: Manche Menschen reagieren sensibler auf Herausforderungen des Gleichgewichtssinns als andere – warum das so ist, wird untersucht, Genaues weiß man noch nicht.
Was passiert, wenn uns durch Schwindel speiübel wird, ist dagegen bekannt. Strupps Berliner Kollege Andrew Clarke leitet das Labor für experimentelle Gleichgewichtsforschung an der Charité. Er weiß: „Ein Sinneskonflikt im tiefen Hirnstamm löst Neurotransmitter aus, die auf das vegetative System einwirken.“ Die Neurotransmitter, biochemische Substanzen, mit denen unser Nervensystem arbeitet, lösen dann dasselbe aus wie bei einer toxischen Reizung des Verdauungstraktes. Ob Giftpilz oder Fahrgeschäft – am Ende wird erbrochen. Aber: „Auf einem einfachen Kettenkarussell wird kaum jemandem schwindelig“, sagt Andrew Clarke. „Schwierig wird es, wenn Sachverhalte optisch vorgegaukelt werden, die nicht mit den Meldungen des Gleichgewichtsorgans übereinstimmen.“
Der Klassiker dieser „Sinneskonflikte“: Lesen auf der Rückbank des Autos. Die auf das Buch gerichteten Augen melden höchstens leichte Vibrationen, das Innenohr hingegen funkt „enger werdende Kurve“ ans Hirn. So etwas kann Erwachsenen genau wie Kindern den kalten Schweiß auf die Stirn treiben. Bloß sitzen die Großen nur noch selten im Auto hinten und können – im Gegensatz zum Nachwuchs – auch der vorbeiziehenden Landschaft etwas abgewinnen.
In einer der populärsten urbanen Landschaften Berlins wird das Gleichgewichtsorgan spielerisch trainiert: Schaukeln stehen auf einem kleinen Hang im Mauerpark, wo einst die Sektorengrenze die Stadt zerschnitt. Die Gestelle sind höher, die Ketten länger als bei normalen Spielplatzgeräten. Junge Erwachsene schwingen sich darauf in den Hauptstadthimmel, manche betrunken oder bekifft, andere nur berauscht von Millisekunden der Schwerelosigkeit. Lisa Rank ist 25, Schriftstellerin und Bloggerin, auch sie schaukelt, wenn sie mal in der Gegend ist. Was sie dabei fühlt? „Ein bisschen Kindheitserinnerung und in jedem Fall das Essen, das sich in meinem Bauch befindet.“ Ganz so oft hängt sie aber auch nicht mehr in den Ketten: „Ich bin mit dem Alter ein bisschen empfindlicher geworden“, sagt sie. „Früher war ich da extrem schmerzfrei.“
Ob Schaukel oder Shaker, mit den Jahren tendieren wir offenbar dazu, den Gleichgewichts-Kitzel zu meiden – obwohl medizinisch betrachtet wenig dafür spricht. Gleichgewichtsforscher Andrew Clarke kennt das Phänomen, er nennt es, halb im Scherz, „die neurotische Komponente“. Soll heißen: Mehr als mit den physiologischen Voraussetzungen hat unser Unwohlsein mit der Psyche zu tun, mit veränderten, eingefahrenen Verhaltensmustern. Die Furcht vor dem Kontrollverlust, vor der momentanen Orientierungslosigkeit – vielleicht ist sie es, die uns schwindeln macht.