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Archiv-Artikel

Sich in den Pop schummelnde Eigenbrötler

EXPERIMENTE Der klangforschende Saxofonist Colin Stetson begeistert sein Publikum im Berghain und Holger Hiller verstört es

Mal dröhnt und brummt es, mal tanzen die Tonkaskaden Pirouetten, je nachdem, zu welchem seiner beiden Instrumente Colin Stetson aus Montreal gerade greift. Bei dem bedrohlich an- und abschwellenden Grummeln aus seinem mannsgroßen Basssaxofon denkt man, gleich zerspringt einem die Bierflasche in der Hand, die Schleifen und jubilierenden Tonreihen, die mit dem Altsaxofon entstehen, erinnern dagegen eher an die etwas vor sich hinplätschernden Filmmusiken des Minimal-Music-Komponisten Michael Nyman.

Erstaunlich ist es so oder so, was man hier an diesem Mittwochabend im Berghain vorgesetzt bekommt: einen Mann und sein Saxofon. Und das eine gute Stunde lang. So etwas verkneift man sich eigentlich inzwischen sogar auf den avantgardistischsten Avantgarde-Festivals der Jazzszene, Colin Stetson aber tourt mit diesem Programm durch die Welt und wird dabei von jungen Hipstern gefeiert wie ein Popstar.

In gewisser Weise ist er das ja auch: Colin Stetson war schon mit angesagten Indiebands wie Arcade Fire und Bon Iver unterwegs, auf Platten von Tom Waits bis David Byrne ist er zu hören – irgendwie hat er es geschafft, sein eher der Jazz-Avantgarde zuzuordnendes Spiel in die Popmusik zu schummeln.

Und jetzt ist er eben der Typ mit dem Basssaxofon, der mit Arcade Fire unterwegs war, der aber auch schon gemeinsam mit dem schwedischen Free-Jazzer Mats Gustafssson auf der Bühne stand. Ein Grenzgänger also, ein Klangforscher, der es tatsächlich hinbekommt, mit seinen mit etwas Hall unterlegten Solo-Sax-Stücken, die sich dank einer ausgefeilten Zirkularatmung schier endlos winden und drehen, ein typisches Berghain-Publikum zu begeistern.

Eine Liebe für das Kuriose

Bemerkenswert an diesem Konzertabend ist aber freilich nicht nur der Auftritt des Blasmusikers, sondern auch der des Mannes vor ihm auf der Bühne.

Allein schon die Tatsache, dass Holger Hiller im Vorprogramm von Colin Stetson zu hören ist, spricht für eine gewisse Liebe für das Kuriose seitens des Veranstalters. Holger Hiller taucht schließlich nur sporadisch mal hier und mal dort wieder auf. Er ist die graue Eminenz des deutschen Postpunk, war Gründungsmitglied der unvergessenen Palais Schaumburg und verlor sich danach in allerlei kauzigen Soloexperimenten. Musikalisch immer ambitioniert, kommerziell, aber chronisch erfolglos. Und er ist, auch wenn er sich zu einer kurzen Wiedervereinigung mit Palais Schaumburg überreden ließ, nur noch selten live zu erleben.

Aber plötzlich spielt er, der nach Stationen in London und Tokio seit Jahren eher unbemerkt in Berlin lebt und inzwischen neben der Kunst als Englischlehrer arbeitet, den Support für den kanadischen Saxofonisten. Gut sieht er aus, der Holger Hiller, extrem schlank ist er und glücklicherweise ganz offensichtlich immer noch ein Eigenbrötler. Was er da hinter seinem Laptop zusammenschraubt und zu gewohnt eigentümlich getexteten Songs verbindet, erinnert an Max Müller und Der Plan, also an maximal idiosynkratischen deutschen Pop.

Dass er es damit schafft, sichtbar ein Publikum im Berghain zu verstören, das sich später von einem bulligen Saxofon-Experimentator hingerissen zeigt, ist auch schon wieder eine Kunst für sich. ANDREAS HARTMANN