„Ich glaube, an der Regierung zu sein ist noch schlimmer“

DIE PIRATEN Pavel Mayer schiebt keinen Frust auf der Oppositionsbank. „Das ist Regieren im Wartestand“, sagt er. Und übers Wetter jammern helfe ja auch nicht

■ Bestes Mittel gegen Oppositionsfrust? Sich klarmachen, dass der genauso wenig bringt wie sich übers Wetter zu ärgern.

■ Bester Zwischenruf? Ich selbst mache nicht so viele Zwischenrufe – dafür sitze ich zu weit hinten.

■ Wichtigste parlamentarische Rede? Vermutlich meine erste und mit zwei Minuten zugleich kürzeste Rede im Haus: die zu den Abgeordnetenrechten.

■ Das Tollste am Oppositions-Sein? Man genießt mehr Freiheit als die Regierungsfraktion und kann offen sagen, was man will.

■ Welches Gesetz hätten Sie am liebsten verhindert? Den handwerklichen Murks bei der Änderung des Vergabegesetzes.

■ Bilanz der Fraktion: 21 Gesetzesinitiativen, 7 Große Anfragen, 716 Kleine Anfragen, 115 mündliche Anfragen, 99 Anträge.

Schon wieder „Club-Mate“. In jedem Text über die Berliner Piraten-Fraktion taucht das Wachmachergetränk auf, als Synonym für alles Piratige: Immer eine Flasche Hipsterbrause in der Hand, diese Hacker.

Alles Quatsch. Im Jahr zwei der Berliner Piraten-Ära greifen sich längst alle die Mate vom Getränkewagen, auch in der Sitzung des Wirtschaftsausschusses Mitte Oktober. „Es ist mittlerweile ein Oppositionsgetränk“, sagt Pavel Mayer danach bei einer selbst gedrehten Zigarette draußen in der Herbstsonne. Er ist wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion und sitzt im Verfassungsschutzsausschuss, sein Pferdeschwanz und sein Hang zu schwarzer Kleidung sind das einzig Unorthodoxe an ihm.

Die Club-Mate-Sache als einzigen Erfolg der Piraten zu werten greift natürlich zu kurz. Auch wenn sie wegen ihrer Twitter-Schlammschlachten oft kaum ernst zu nehmen waren. Wäre Macht gleich Medienpräsenz, wären sie anfangs zumindest in der Eigenwahrnehmung ziemlich mächtig gewesen: Man habe „mehr Medienanfragen als Wowereit“ gehabt, sagt Mayer, „die gesamte Weltpresse“ habe über den Wahlerfolg der Nerds berichtet. Die Idee, man habe keinen Einfluss, kam vielen lange nicht; sie waren ja die Popstars im Abgeordnetenhaus.

„Ich habe mir darüber aber keine Illusionen gemacht“, sagt Mayer. In der Sitzung kurz zuvor flutschten die Abstimmungen nur so, die Opposition enthielt sich oder stimmte dagegen, die Koalition segnete ab. Zu 95 Prozent laufe das so, weiß der 48-Jährige. Wichtig sei, die Parteiposition öffentlich zu vertreten – gerade weil einiges dann doch in den Gesetzesvorschlägen der Regierung lande. „Es gibt keine organisierte Opposition“, sagt er, nur vereinzelt, etwa beim Thema Energie, stimme man sich ab.

Er ist Unternehmer, seine Firma entwickelt Software, um Daten easy zwischen Geräten hin- und herzuschubsen. Er war lange im Chaos Computer Club aktiv, bevor er sich 2009 entschloss, Netzpolitik nicht nur außerparlamentarisch zu vertreten. Dass die Sache mit dem Schultrojaner am Ende gestoppt wurde und alle Fraktionen gegen Acta stimmten, liegt seiner Ansicht nach am Einfluss der Piraten. Bei diesen Themen, scheint es, setzt man auf die Expertise der Nerds – schließlich fragen auch dauernd Abgeordnete wegen Computerproblemen um Rat. „Es vergeht keine Plenarsitzung, in der die Koalition nicht zehnmal das Wort Transparenz in den Mund nimmt“, sagt er. Ganz im Sinne der Piraten-Taktik, über unzählige Kleine Anfragen Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen. Es funktioniert. Dass Piraten Bürgerbeteiligung wichtig finden, mag daran liegen, dass sie als Netzaktivisten lange von außen agierten: „Das ist eines der wenigen Machtinstrumente, die Regierung zu etwas zu zwingen“, findet Mayer.

Auch mal den Senat loben

Neulich fragte er in seinem Blog seine Co-Piraten: „Werden wir das politische System nicht verändern, weil wir lieber scheitern, als uns selbst zu verändern?“ Über Macht denkt er viel nach. Er zieht an seiner Zigarette und sagt: „Es gibt zwei Sorten Opposition: Frontalopposition oder konstruktive Opposition.“ Er lobe die Regierung ja auch mal. Anders die Grünen: Ihre Skandalisierungstaktik mache sie als möglichen Koalitionspartner kaum sympathischer: „Manchmal denke ich, sie wollen gar nicht regieren.“

Oppositionskoller kennt Mayer nicht, „es hilft auch nicht, sich übers Wetter zu beklagen“, meint er lapidar. Den Spruch: „Opposition ist Mist“, kann er nicht verstehen. „Sie ist wichtig. Sie ist Regierung im Wartestand.“ Und sowieso: „Nach Gesprächen mit Senatoren glaube ich, regieren ist noch schlimmer.“ ANNE HAEMING