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Archiv-Artikel

Ein Leben, viele Irrtümer

HAUSBESUCH Er stritt sich mit Rudi Dutschke und arbeitete für die Stasi. Bei Jürgen-Bernd Runge in Bonn

VON PASCAL BEUCKER (TEXT) UND THEKLA EHLING (FOTOS)

Bonn, Stadtteil Poppelsdorf, in Nordrhein-Westfalen. Zu Hause bei Jürgen-Bernd Runge (69).

Draußen: Ein dreigeschossiges Mietshaus, direkt an der Autobahnabfahrt. Das rote Fahrrad vor dem Haus scheint hier immer zu stehen, bei Google Street View sieht man es auch. Seit 1975 wohnt Jürgen-Bernd Runge im Erdgeschoss. „Bis 1992 gab es hier noch keine Lärmschutzfenster und kein Lkw-Fahrverbot“, sagt er. „Das war schon deftig.“

Drin: Überall Bücher, bis unter die Decke. In der Diele, im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer, im Schlafzimmer, in der Küche. Wie viele er hat? „Ich weiß es nicht, einige Tausend.“ Alles ist wohl sortiert: Da die Philosophie-, dort die Liberalismusabteilung. „Hier stehen die Bücher zur Frauenbewegung und über das Geschlechterverhältnis“, zeigt Runge in eine Ecke. Auch die konservativen Theoretiker haben ihren festen Platz. Die marxistischen Klassiker sowieso – aus alter Verbundenheit. Über dem Bett steht Studentenbewegtes. Seine Bibliothek dokumentiert viele Lebensphasen, sagt der Politologe. In seinem pfeifenrauchgeschwängerten Arbeitszimmer steht der alte Schreibtisch des legendären FDP-Generalsekretärs Karl-Hermann Flach. Runge erwarb ihn Mitte der Siebziger für 10 Mark von der FDP-Bundesgeschäftsstelle. An der Wand im Flur hängt ein Zitat des italienischen Theologen Romano Guardini: „Es ist nicht gut, vor Wirklichkeiten zu tun, als ob sie nicht wären, sonst rächen sie sich.“

Was macht er? „Ich bin ja formal im Rentenalter.“ Runge erhält die Grundsicherung. „Natürlich ist das mit erheblichen Einschränkungen verbunden.“ Sein Leben sei „nach bürgerlichen Begriffen alles andere als erfolgreich“ verlaufen, da blieb fürs Alter nicht viel übrig. Aber er könne auf materiell anspruchslosem Niveau leben, sehe keinen Grund, sich zu beklagen.

Was denkt er? „Ich bin 69 Jahre alt, stehe vor den Trümmern meiner Lebensgeschichte. Das sage ich nicht gerne, aber es ist so.“ Runges Leben war zwar spannend, doch auch eins „mit vielen Irrtümern“. Damit setze er sich „intensiv auseinander“.

Jürgen-Bernd Runge: Aufgewachsen in „sehr einfachen Verhältnissen“ in einem protestantischen Elternhaus im tiefkatholischen Paderborn. 1960 Eintritt in die Junge Union, zwei Jahre später in die CDU. Nach dem Abitur 1965 zum Studium nach Berlin. Im April 1967 wird er RCDS-Vorsitzender an der Freien Universität. Es ist die Zeit der Studentenbewegung. Im Audimax liefert er sich als „rechter Gegenspieler“ hitzige Redeschlachten mit Rudi Dutschke. „Ich muss allerdings sagen: Ich war weit von seinem Format entfernt.“ Runge nähert sich Schritt für Schritt den Positionen der Linken an. Sie hätten ihn „letztlich überzeugt und ich sah mein Kartenhaus der konservativen Ideologie zusammenbrechen“. Während der dritten Lesung der Notstandsgesetze tritt der Adenauer-Stipendiat aus dem RCDS und der CDU aus. Er wird 1969 Mitglied der FDP und deren Jugendorganisation, der Jungdemokraten. Nach dem Politologie-Diplom 1970 trampt Runge durch Asien. 1973 zieht er als Bundesgeschäftsführer der Jungdemokraten nach Bonn um, ab 1975 arbeitet er in der FDP-Bundesgeschäftsstelle und wird schließlich 1978 persönlicher Mitarbeiter des FDP-Bundesvorstandsmitglieds William Borm, dem Grandseigneur des Linksliberalismus in der BRD. Aber das ist nur die „offizielle“ Seite, es gibt noch eine „inoffizielle“. Über einen Leipziger Philosophieprofessor, der mit seiner damaligen Freundin verwandt ist, lässt sich Runge Anfang der Siebziger von der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR anwerben. Der Inoffizielle Mitarbeiter „Richard“ ist eine ergiebige Quelle: Die Sira-Datenbank wird später 188 Einträge ausspucken – Einschätzungen, Berichte, Protokolle. Auch der von ihm hochverehrte William Borm arbeitet für das MfS, was Runge allerdings erst während seiner Tätigkeit für ihn durch einen Zufall erfährt. Gesprochen haben sie darüber nie. Anfang der Achtziger endet mit dem Bruch der sozialliberalen Koalition auch Runges Agentenkarriere. Er kommt immer schlechter mit seiner Doppelexistenz zurecht, leidet darunter, sich niemandem anvertrauen zu können. „Es ging mir damals nicht um eine Abkehr von der DDR, sondern um ein offenes Bekenntnis zu meinen kommunistischen Überzeugungen.“ 1983 quittiert er endgültig seinen Dienst für die Stasi und schließt sich im folgenden Jahr der DKP-nahen „Friedensliste“ an, deren Pressesprecher er bis 1987 ist. Aus der FDP war er schon 1982 ausgetreten. Mit dem Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks bricht auch Runges Weltbild zusammen. „Ich musste mich fragen, warum ich den letztlich menschenverachtenden, totalitären Charakter des realen Sozialismus nicht habe sehen wollen“, sagt er. „Und mich damit auseinandersetzen, dass ich das Vertrauen von Menschen missbraucht habe, indem ich über sie berichtete.“ 1991 fliegt seine frühere Stasi-Tätigkeit auf. Der Generalbundesanwalt leitet ein Ermittlungsverfahren ein, das später wegen Verjährung eingestellt wird.

Das erste Date: „Ich hatte große Hemmungen vor dem anderen Geschlecht und war ein wirklicher Spätzünder.“ Seine spätere Frau Florence lernte er Anfang 1983 kennen: in der Friedensbewegung.

Die Hochzeit: „Das Datum war programmatisch: am 1. September 1986, am Antikriegstag.“ Die Teilnahme von Florence und ihm an der Antikriegsdemo war Bestandteil ihrer Hochzeitsfeier. Von seiner Stasi-Vergangenheit erzählte er ihr erst 1989. Was sie bis heute empört. Trotzdem hielt sie zu ihm. Ihre Trennung 1998 hatte einen profaneren Grund: Das Zusammenleben klappte nicht mehr. Florence besucht ihn noch öfters.

Der Alltag: „Ich habe mich lange Zeit sehr stark zurückgezogen.“ Selbstzweifel und Scham reduzierten sein gesellschaftliches Leben. Seit ein paar Jahren beteiligt sich Runge wieder an einem privaten Literaturkreis, der sich in Bonn trifft. Er engagiert sich ehrenamtlich in einem Pflegeheim. Und er ist in einem Philosophiekreis, „um über die Grundlagen der menschlichen Existenz und des Lebens nachzudenken“. Nach überstandener Operation und anschließender Reha erholt sich Runge zurzeit von einer schweren Krankheit.

Wie finden Sie Merkel? „Gut.“ Wer genau hinhöre, könne erkennen, dass sie ein „sehr präzises Argumentations- und Überzeugungspotenzial hat und eben nicht nur moderiert und verwaltet, sondern auf eine bestimmte, sehr intelligente, vielleicht weibliche Art gestaltet“.

Wann sind Sie glücklich? „In der Natur. Und beim Musikhören.“

Nächstes Mal treffen wir Ursula Eichler in Karlsruhe, Baden-Württemberg. Interesse? Mailen Sie an hausbesuch@taz.de