: Die große Kellergeisterbeschwörung
GESAMTWERK Nun erscheint „The Complete Album Collection Volume One“ – 35 CDs mit allen offiziellen Alben Bob Dylans, des größten Singer-Songwriters aller Zeiten. Gerade ist er auch auf Deutschlandtour
VON JULIAN WEBER
Gerüchte stellen eine kulturelle Praxis der anonymen Rede dar, schreibt Hans-Joachim Neubauer in „Fama. Eine Geschichte des Gerüchts“. Seine Bemerkung trifft in vielfacher Weise auf die Karriere von Bob Dylan und die Genese von „The Basement Tapes“ zu, einem Doppelalbum, das er 1975 gemeinsam mit The Band veröffentlichte. Das Rätselraten um die Entstehung der Songs begann lange vorher, denn die Aufnahmen entstanden bereits im Frühsommer 1967 in einem Keller in Saugerties, New York, kurz nachdem sich Dylan wegen eines Motorradunfalls aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und aufgehört hatte, Konzerte zu geben.
„The Basement Tapes“ sind auch Bestandteil von „The Complete Album Collection“, dem Gesamtwerk Bob Dylans, das am 1. November als Boxset mit ausführlichen Linernotes des Dylanologen Clinton Heylin erscheint. Alles kompletti, das erscheint für die work in progress, die Bob Dylans Werk nun mal darstellt, natürlich unzutreffend. Seine offiziell erhältlichen Alben sind nur Teil der Künstlerpersona. Der Kulturkritiker Greil Marcus wählt denn auch für den Charakter der „Basement Tapes“ Bezeichnungen wie „Mythos“, „Gemeinplatz“, „Bestandteil des Alltagslebens“ und „schemenhaft erinnerter Traum“. Man glaubt zwar alles über Dylan zu wissen, er aber schafft es trotzdem immer wieder, seine Spuren gründlich zu verwischen.
Die offiziell erhältliche Version der „Basement Tapes“ – sie besteht aus 24 Songs – ist unvollständig. Es zirkulieren Bootlegs, die auf vier CDs unzählige weitere Songs enthalten, die damals von Dylan und The Band im Keller eingespielt wurden. Das Material der „Basement Tapes“ ist bis heute nicht vollständig erschlossen. Absicht?
„Es gibt keine zuverlässige Erinnerung, geschweige denn Dokumentation, die exakt wiedergeben könnte, wann Dylan und die anderen sich zu treffen begannen, um mit alten Songs herumzuexperimentieren, oder wann alte Songs immer mehr in den Hintergrund rückten“, schreibt Greil Marcus in seinem Buch „Basement Blues. Bob Dylan und das alte, unheimliche Amerika“ über die Entstehung dieser wundersamen Musik. Die Beteiligten widmeten sich in extenso Shantys, Trinkliedern, den Blaupausen des frühen Rock ’n’ Roll, sie covern Bluesstandards und Folktraditionals. Dylan begann sich nicht erst Mitte der sechziger Jahre für die Wurzeln der populären Musik zu interessieren. Aber in jener Zeit konnte er, unterstützt von The Band, zum ersten Mal seine sehr persönlich gefärbte und elektrisch verstärkte Version dieser Geschichte realisieren.
Wenn sich mystery und history verstärken, kann Bob Dylan nicht weit sein. „Ganz offensichtlich wird der Tod universell nicht akzeptiert“, lässt er sich in den Linernotes von „The Basement Tapes“ zitieren. „Ich glaube, man kann davon ausgehen, dass die Folkies von ihren Songs lernten, dass Rätsel Bestandteil der Tradition sind.“
Ein Star verändert die Weltformel, abgeschottet von der Öffentlichkeit. Das mag kaum glaublich sein, im Zeitalter totaler Transparenz und lückenloser elektronischer Überwachung, aber Bob Dylan war und ist ein Meister in Verstellung und Geheimniskrämerei, „einer, der aus Lösungen ein Rätsel machen kann“, um Karl Kraus zu zitieren. Einer, der sich extrem gut darauf versteht, so zu tun, als schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit.
Deutlich wird das auch auf der Bühne, wo nicht ersichtlich wird, ob und was Dylan außerhalb seiner Musik bewegt. Fotografieren ist nicht gestattet. Er macht keine Ansagen, verzichtet auf jegliche Zugeständnisse ans Publikum. So zwingt er seine Zuhörer in eine reine Performance-Situation. Zwischen den Songs erlischt das spärliche Bühnenlicht. Im blauen Westernanzug mit weißen Streifen schleicht Dylan am Donnerstagabend auf die Bühne des ausverkauften Berliner Tempodroms, von Ferne an einen Yankee im amerikanischen Bürgerkrieg erinnernd, während seine fünfköpfige Band in ihren einheitlichen grauen Anzügen die Südstaaten-Gegenseite darstellt. Kann es sein, dass Dylan und seine Band damit auch ein Bild der Selbstbezogenheit ihrer Nation abgeben? Bei allen optischen Gegensätzen, das Zusammenspiel zwischen Dylan und seinen Musikern klappt blind, obwohl er nicht mit ihnen kommuniziert. Dylan wechselt hin und her zwischen dem Gesangsmikrofon, an dem er gelegentlich die Mundharmonika auspackt, und dem seitlich platzierten Piano. Aufs Gitarrespielen verzichtet er.
Zum Warmwerden gibt es „Things have changed“ vom Soundtrack „The Wonder Boys“ (aus dem Jahr 2000). Ein mürrisches Lamento von einem „worried man with a worried mind“, darüber, wie es sich anfühlt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. „Standing on the gallows with my head in a noose / Any minute now I’m expecting all hell to break loose / People are crazy and times are strange / I’m locked in tight, I’m out of range /I used to care / But things have changed / I’m out of range.“ Zum Auftakt ein Song, der davon handelt, wie die Welt aus den Fugen gerät.
Auch die Dynamik der Band schwimmt noch etwas, aber die apokalyptische Stimmung kommt in Dylans krächzender Stimme schon rüber. „All the love in the world adds up to one big lie.“ Dann geht es weit zurück mit „She belongs to me“ vom Album „Bringing it all back home“ (1965), und Dylan packt die Mundharmonika aus. Mit jeder Silbe beweist er, dass die titelgebende Frau niemandem gehört, dem Vortragenden schon gar nicht. Jetzt hat sich auch die Band gefangen, swingt gelöst.
Das ganze Set steht im Zeichen der Roots Music und hat Anklänge an Honky Tonk, Rockabilly, Country und Blues. Auch die Instrumentierung auf der Bühne entspricht dem, wenn der Gitarrist Donnie Herron Pedalsteelgitarre spielt oder Banjo, und Bassist George Receli den Kontrabass benutzt. In der Songauswahl dominiert das Spätwerk. Trotzdem hat das Konzert eine Anmutung, wie sie damals im Keller bei den Aufnahmen zu „The Basement Tapes“ auch zu spüren gewesen sein muss.
Am Donnerstag klingt das weniger salopp, sondern mit präzisem Wumms und einem „Ihr wollt Dylan, ihr kriegt Dylan, bitte sehr“-Gestus. Besonders bei „Duquesne Whistle“, dem schmissig walzernden Auftaktsong vom letztjährigen Album „Tempest“. Aus diesem Album bestreitet Dylan weitere fünf Stücke.
Am besten gefällt jedoch „Love Sick“ (von „Time out of mind“, 1997), nicht nur weil Dylan in dem Text relativ nüchtern über das unendliche Gefühlswirrwarr namens Liebe sinniert, seine Band zieht ihn mitsamt seinem Text auch fort aus der Misere und feiert Dylan beim Outro. Und dann geschieht das Unerwartete: Dylan verabschiedet sich am Mikrofon zur Pause.
Die Band findet hernach mit „Simple Twist of Fate“ spielend zurück in den Flow. Das Stück ist in seiner Bühnenfassung vom Original („Blood on the Tracks“, 1975) kaum wiederzuerkennen. Der Höhepunkt kommt aber vor der Zugabe (die beiden Klassiker „All Along the Watchtower“ und „Blowin’ in the Wind“) und heißt „Long and Wasted Years“ und stammt von 2012. Dylan und seine Band wirken nun energisch und gleichzeitig gezügelt, kontemplativ, aber auch abgezockt. „Ein ausgedehntes Spiel, bei dem es darum geht, wieder den eigenen Interessen nachzugehen, in einer vertrauten und vertrauensvollen Umgebung, anständig angezogen und angenehm maskiert“, schreibt Greil Marcus über „The Basement Tapes“. Das passt auch auf Dylans spätere Karriere.
■ Bob Dylan: „The Complete Album Collection Volume One“ (Columbia/Sony)