: In Grenzregionen
Vom Sterben handeln, übers Leben erzählen: ein neuer Roman und neue Erzählungen von Olga Tokarczuk
von JÖRG MAGENAU
Olga Tokarczuk ist eine Bewohnerin des Randgebiets, das manche auch Mitteleuropa nennen. Sie lebt im schlesischen Eulengebirge, in einem Dorf an der polnisch-tschechischen Grenze. Früher hieß diese Gegend um Nowa Ruda „Glatzer Land“. Tokarczuk, 1962 geboren, ist in dieser Region aufgewachsen und kehrte nach dem Psychologiestudium in Warschau über die Zwischenstation Breslau wieder hierher zurück. In Walbrzych gründete sie einen Verlag, in dem auch ihre eigenen Bücher erscheinen. Ihre Eltern kamen einst zusammen mit vielen anderen Umsiedlern aus dem östlichen Polen, nachdem die Deutschen in Richtung Westen vertrieben worden waren. Die Großmutter war Ukrainerin und sprach kein Wort Polnisch. Die Neuankömmlinge übernahmen die Häuser der Deutschen, manchmal noch mit ein paar verschreckten deutschen Frauen unterm Dach und mit allem Geschirr, den Bildern an der Wand und den Fotoalben im Schrank.
Wie man in einer fremden Vergangenheit lebt und sich einrichtet, hat Olga Tokarczuk immer interessiert. In Polen nannte man diesen Zustand „Schneewittchen-Syndrom“, mussten doch die neuen Bewohner fürchten, die alten könnten eines Tages zurückkehren und fragen: Wer hat von unseren Tellerchen gegessen?
Tokarczuks Roman „Taghaus, Nachthaus“, 2003 in Deutschland erschienen, handelte von diesen Verschiebungen und sammelte Geschichten aus der Region: Mythen, Märchen, Heiligenlegenden und Erlebnisse der versprengten Deutschen und Polen aus dem vergangenen Jahrhundert. Alle Erfahrungsebenen haben bei Tokarczuk dasselbe Recht und denselben Realitätsgehalt. Wenn jemand an Gott glaubt, dann gibt es Gott. Und wenn jemand mit den Toten spricht, dann sind sie wirklich da. „Taghaus, Nachthaus“ war eine archäologische Tiefenauslotung, ein Buch der Grenzen und der Übergänge in vielfacher Hinsicht: zwischen Ländern, Worten, Sprachen, Zeiten und Jahreszeiten, Traum und Wachen, und nicht zuletzt zwischen Leben und Tod. Plakativ verbanden sich diese Elemente in der Geschichten vom Tod eines Deutschen, der bei einer Reise in die alte Heimat im Wald genau auf der Grenze starb. Die polnischen Soldaten, die ihn fanden, zerrten ihn auf die tschechische Seite, um sich Ärger zu ersparen. Die Polen trugen ihn wieder zurück.
Überall in dieser feuchten Grenzregion wuchern Pilze, wenn nicht gerade Winter ist. Pilze sind das Wappenzeichen Olga Tokarczuks: Organismen, die nicht zu den Tieren und nicht zu den Pflanzen gehören und die aus dem Verfall, aus der Fäulnis, ihr Leben gewinnen. „Für mich sind Leben und Tod keineswegs zwei miteinander kämpfende Wirklichkeiten, sondern zwei Punkte eines Kontinuums“, sagte Olga Tokarczuk in einem Interview zu ihrem neuen Roman „Letzte Geschichten“. Dieser Todesarten-Zyklus ist ein Frauen- und Generationenroman, doch keine Familien-Saga, denn die Bindungen zwischen Großmutter, Mutter und Tochter sind gekappt. Der Roman ist wie ein Triptychon gebaut, dessen Geschichten sich aufeinander beziehen lassen. Dreimal geht es um den Tod, um das Sterben und darum, wie die Lebenden sich dazu verhalten. Auch dieses Buch beginnt in der polnischen Grenzregion, führt aber im dritten Kapitel, dem der Enkelin, hinaus auf eine sehr ferne, sehr blaue, sehr heiße Insel in der Südsee. Auch die regional so sehr verwurzelte Literatur Olga Tokarzcuks ist angekommen im Zeitalter der Globalisierung.
Wie schreibt man über den Tod, ohne sentimental oder metaphysisch zu werden? Bei Olga Tokrazuk klingt das so: „Pedro ist am Sonntagabend gestorben. Gut, dass es abends war, wenn er am Morgen gestorben wäre, hätte ich den ganzen Sonntag allein sitzen müssen. So war es besser, am Abend, besser für ihn und für mich. Er war gestorben, und ich ging schlafen, denn ich wusste, dass sich nichts mehr machen ließ, weder konnte ich ihn wiederbeleben, noch konnte ich selbst sterben. Der Schlaf jedoch vermag sanfte Grenzen zwischen den Ereignissen zu ziehen. Nichts kann wirklich anfangen oder aufhören, solange nicht der Schlaf den Punkt hinter den Tag setzt.“
Die Geschichte der alten Paraskewia bildet das Zentrum des Triptychons. Sie tritt als einzige der drei Frauen als Ich-Erzählerin auf. Sie wohnt in einem Haus in den Bergen, unten im Tal liegt das nächste Dorf. Alles ist verschneit, sodass sie wohl bis zum Frühling mit ihrem toten Mann allein hier oben bleiben wird. Ihr Versuch, am Hang große Buchstaben in den Schnee zu trampeln, um die Botschaft ins Tal zu funken, wird wohl kaum Erfolg haben. Pedro liegt auf der Veranda, die er selbst nordwärts, zum Hang hin, gebaut hat – als habe er sie bereits als kühle Leichenhalle konzipiert. Die alte Frau spricht Tag für Tag mit ihm, berührt ihn, und es kommt ihr so vor, als halte er nur ein etwas längeres Mittagsschläfchen. Sie hat viel Zeit, um Abschied zu nehmen und sich an das gemeinsame Leben zu erinnern: an die Vertreibung aus dem Osten. An einen finsteren Russen, dem sie sich hingeben musste, um Pedro das Leben zu retten. An das auf der Flucht gestorbene Kind. An eine Liebschaft und die Verachtung der Tochter Ida, die in einem Internat aufwuchs.
Ida hat man im ersten Teil schon als eine Frau Mitte fünfzig kennen gelernt, von Beruf Reiseleiterin, die während einer Autofahrt in die alte Heimat im Schneetreiben von der Straße abkommt und gegen einen Baum prallt. Herausgeschleudert aus ihrem Leben, landet sie bei zwei alten Leuten, die in ihrer Scheune eine Art Sterbeklinik für Tiere betreiben. Am Elend eine Hundes, der in der Küche liegt und langsam und qualvoll verendet, studiert Ida, wie das Sterben vor sich geht und was man von den Tieren lernen kann. „Menschen sind ungeduldig“, heißt es da. „Selbst wenn sie sich mit dem Tod abfinden, das Sterben an sich gefällt ihnen nicht.“ Tokarczuk zelebriert den Verfall, ohne etwas zu beschönigen. Am Ende ist der Körper des Tieres nur noch „ein löchriger Beutel, ein Klumpen Materie“. Der Tod, stellt Ida fest, „ist genauso misslungen wie das Leben selbst“. Und doch ist sie fasziniert von diesem kreatürlichen Prozess. Auch der Romananfang gehört den Tieren. Die Szene, in der eine Kuhherde die winterliche Landstraße blockiert, um bedächtig das Salz vom Asphalt zu lecken, könnte in ihrer majestätischen Ruhe ganz ähnlich auch Andrzej Stasiuk geschrieben haben: „In dem metallischen Winterdämmer waren sie dort auf der Straße plötzlich keine Tiere mehr. Sie wirkten wie Geschöpfe, die über Jahre meditierend an ihrem Gleichmut gearbeitet hatten.“
Weil „Letzte Geschichten“ vom Sterben handelt, ist es nicht zuletzt ein Buch über das Leben. Dem Verschwinden der Dinge und der Erfahrungen setzt Olga Tokarczuk ihre poetische Imaginationskraft und die Schönheit der Sprache entgegen. Dass daran nichts kitschig oder pittoresk wirkt, liegt sicher auch an der Übersetzung von Esther Kinsky, die den nüchternen, sachlichen Charakter betont. Das gilt auch für den Erzählungsband „Spiel auf vielen Trommeln“, der neben einigen schwächeren zwei gelungene Texte enthält. „Die Glyzinie“ erzählt von der Liebe einer Mutter zum Mann der Tochter und von den Blüten der Kletterpflanze, die deren Haus überwuchert.
Die Titelgeschichte, „Spiel auf vielen Trommeln“ entstand, als Olga Tokarczuk für ein Jahr als Stipendiatin des DAAD in Berlin lebte. Sie wohnte im Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz mit Blick auf die Bewohner einer Wagenburg, die ihre Nächte trommelnd am Lagerfeuer zu verbringen pflegten. Die Erzählerin ist fasziniert von dieser Form des praktizierten Gleichmuts und wird selbst zu einer Trommlerin. Auch hier geht es, wie in „Letzte Geschichten“, darum, den vergänglichen Augenblick auszudehnen und das flüchtige „Jetzt“ festzuhalten. Das Trommeln ist ein Ewigkeitsgeräusch, ein Traum, ein Rausch. Wenn Tod alles ist, was keine Wahl lässt und was man nicht abwenden kann, wie es in „Letzte Geschichten“ heißt, dann sind die Trommler vom Mariannenplatz listige Zauberer, die die Vergänglichkeit austricksen. Olga Tokarczuks Prosa produziert solche Trommelgeräusche.
Olga Tokarczuk: „Letzte Geschichten“. Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. DVA, Stuttgart 2006, 296 Seiten, 22,90 € Olga Tokarczuk: „Spiel auf vielen Trommeln“. Erzählungen. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Matthes & Seitz, Berlin 2006, 136 Seiten, 14,80 €