: Die verlängerten Träume
Die Psychoanalyse ist Teil der zeitgenössischen Kultur. Und damit sind Freuds Traumdeutungen selbst Gegenstand der Wissenschaft geworden
VON JUDITH LUIG
„Der Mensch ist nicht mehr als ein Esel, wenn er sich daran macht, seinen Traum zu deuten“, erklärt der Weber Bottom im „Mittsommernachtstraum“. Eine frühe Kritik an Freud? Wohl kaum. Der erste Druck von Shakespeares Komödie stammt aus dem Jahr 1600, und erst genau 300 Jahre später erschien Freuds „Traumdeutung“. Und Bottoms Wunsch ist auch von Freud nicht entsprochen worden. Shakespeares Dramen sind vielmehr wichtige Bezugstexte für Freuds Traumdeutungen und Psychoanalysen. Und Freuds Texte wiederum prägen bis heute Leser von Shakespeares Dramen.
Im März 1930 bat Richard Flatter um eine Psychoanalyse von König Lear, dem Mann, der seine Macht vor der Zeit seinen Töchter überlässt. Flatter, der gerade die Tragödie übersetzt hatte, fragte sich, ob Lear nicht vielleicht ein Opfer der von Freud beschriebenen Hysterie sei. Freud konnte beruhigen. Lear zeige zwar einige abnormale Anzeichen, habe aber keinen besonders konsistenten Verlauf im Krankheitsbild. Im Theater reiche es ohnehin aus, wenn ein Charakter der Populärpsychologie des Zuschauers nicht allzu sehr widerspräche. „Von einem Dichter“, so Freud, „kann man nicht erwarten, dass er uns ein klinisch perfektes Beispiel einer Geisteskrankheit liefert.“
Neun Jahre später beschäftigte sich Sigmund Freud jedoch noch einmal mit dem Problem. Für einen Hysteriker halte er Lear immer noch nicht, schrieb er an Flatter, doch immerhin zeige der König Störungen „einer Art, die ich bislang noch nicht analysiert habe und mit der ich mich auch jetzt nicht beschäftigen möchte.“
Zu Freuds 150. Geburtstag stellt man sich allerorten die Frage, wie aktuell Freud heute noch sein kann. „Aus der Traum“ titelt Literaturen. Doch im Heft widerspricht Slavoj Žižek dieser These. „Was im Gewande eines Traumes daherkommt, ist manchmal die verborgene Wahrheit, auf deren Unterdrückung die soziale Realität gegründet ist“, schreibt der Kulturtheoretiker. Wissenschaftlich werde das freudianische Modell von kognitivistisch-neurobiologistischen Erkenntnissen abgelöst, auf der psychiatrischen Ebene gewinne die medikamentöse Therapie zunehmend an Bedeutung, und angesichts des zeitgenössischen Hedonismus verlören auch Freuds Darstellung des unterdrückten Sexualtriebs an Brisanz. Doch dadurch werde erst möglich, dass jetzt die Stunde eines anderen Freuds komme, erklärt Žižek. Einen, der nicht mehr auf die Sexualität begrenzt werde, sondern der auch für die Interpretation der Flüchte in Cyberspace-Tagträume und Gewaltspiele genutzt werden könne. Darin liege die ultimative Lektion von Freuds Traumdeutung: „Realität ist etwas für all die, denen die Kraft fehlt, den Traum auszuhalten.“
Und die Literaturwissenschaft? Die Behandlung einer dramatischen Figur als Menschen verfehlt die historische und künstlerische Besonderheit von literarischen Texten. Hätte Shakespeare Lear als Hysteriker dargestellt, dann könnte man das fruchtbringender durch das Studium von zeitgenössischen medizinischen Traktaten erarbeiten. Dann wiederum wäre ein hysterischer Lear interessant, gilt doch Hysterie der frühen Neuzeit als Frauenkrankheit, die auf einen „wandernden“ Uterus oder angestautes Blut zurückzuführen ist. Lear als Grenzgänger zwischen den Geschlechtern?
Viele Versuche, die Psychoanalyse für die Interpretation von Dramen zu nützen, führen zu Absurditäten. Wie zum Beispiel die Deutung der Totenschädel im Hamlet als Testikel. Doch gibt es auch in der Literaturwissenschaft eine spannende Beschäftigung mit Freud. Nachdem Roland Barthes den „Tod des Autors“ erkannte, kann ein Einblick ins vermeintliche Seelenleben Shakespeares, wie Freud es in der „Traumdeutung“ präsentiert, für sein Werk nicht mehr von Interesse sein. Seine Darstellung von Weiblichkeit gilt der Geschlechterforschung schon lange als antiquiert. Konsequenterweise wird die professionelle Auslegung des Inneren in der Literaturwissenschaft jetzt selbst zum Objekt. „Pschoanalyticismus“ – so nennen Ingrid Hotz-Davies und Anton Kirchhofer ihre Nutzung von Psychoanalyse als kulturellem Material. Freuds Deutungen sind in ihrem Band zu einer Fundgrube für künstlerische und kritische Beschäftigung geworden. „Psychoanalyse fungiert als Mythologie des 20. Jahrhunderts“, erklärt Tobias Döring in seinem Beitrag. Sie sei eine Quelle von Figuren und Ideen, biete ein Repertoire von Bedeutungen. Verstörendes kann im Rahmen gehalten,Unaussprechliches gezeigt werden.
Die Psychoanalyse ist Geschichte“, so beginnen Carla Mazzio und Douglas Trevor ihre Betrachtungen über „Historismus, Psychoanalyse und die Kultur der Frühen Neuzeit“ (2000). In der Tat ist die psychoanalytische Deutung literarischer Charaktere in der Literaturwissenschaft immer mehr von anderen Forschungsfeldern verdrängt worden. Deswegen legen die Autoren diesen Satz im Folgenden auch anders aus: Die Psychoanalyse ist Teil der Geschichte der Darstellungen des Ichs und somit Teil der Geschichte der Erzählungen über Selbstreflexion, über die Geschichte der Emotionen, über den Ausdrucks eines Inneren in äußerer Form.
Doch die Erkenntnis dieses Selbst ist gewaltsam. Und diese Gewalt verlangt nach einer äußeren Ausdrucksform, wie man sie zum Beispiel im Theater Shakespeares findet. Wieder spielt der Traum eine wichtige Rolle. Der Weber Bottom ist im nächtlichen Wald vom Elfen Puck zur Hälfte in einen Esel verwandelt worden. In dieser grotesken Gestalt verführt ihn die ebenfalls verzauberte Feenkönigin. Als er aus der Verzauberung, der Begegnung und dem sich anschließenden Schlaf erwacht, kann er sich zunächst nicht orientieren.
Elisabeth Bronfen beschreibt Bottoms Erwachen aus seinem Verführungstraum als einen „gewalttätigen Verlust der Erinnerung“. Der Träumende erfährt, dass seine eigene Sprache kein adäquates Medium für die Darstellung des Traums ist. Die Erfahrung verstört ihn, doch er äußert seine Emotionen nur in der verstümmelten Aufzählung von Köperteilen. „Das Auge … hat nicht gehört, das Ohr … hat nicht gesehen, die Hand des Menschen ist nicht fähig, zu schmecken.“ Schließlich wünscht er sich, dass ein Dichter seinen Traum in eine Ballade fassen solle. Die sexuelle Aggression des Traums, so Bronfen, und seine Nähe zur Erniedrigung können nur in kunstvoller Sprache dargestellt werden. Hier sieht sie die Verbindung zwischen Gewalt, Traum und Dichtung.
„Jeder Traum hat eine Stelle, an der er unergründlich ist“, schreibt Freud. Der Dichter – wie der Psychoanalytiker – ist jemand, der diese Unergründlichkeit mit Hilfe der poetischen Sprache repräsentieren kann. Doch interessanterweise wird Bottoms Traum im „Mittsommernachtstraum“ nicht in eine Ballade verwandelt. Und so bleibt von der bizarren Verführung nur die gewaltsam verstümmelte Sprache, an der Bottom selbst in der Darstellung scheitert. Die Gewalt des Versuchs der Erkenntnis wird jedoch auf der Bühne durch ebendiese Körpersprachfetzen dargestellt. Und so wird auch der Zuschauer mit dieser Gewalt konfrontiert.
In der Literaturwissenschaft werden Freuds Theorien der Psychoanalyse nicht auf den Text angewandt. Vielmehr werden sie mit ihm auf derselben Ebene gelesen. Als eine Möglichkeit der Darstellung menschlicher Erlebnisse, Erkenntnisse und Emotionen.
Die soziale Realität, so liest Žižek Freud, gründet auf Unterdrückung der Wahrheit. Der Traum, wie das Theater, könne eine Repräsentation dieser Wahrheit darstellen. Der öffentliche Ausdruck einer Intimität wird hier, wie Elisabeth Bronfen es nennt, zu einer Darstellung von „Extimität“. Und so wirft sie am Ende ihrer Betrachtung über Shakespeares nächtliche Welten den Ball zurück zum Zuschauer, der sich die Repräsentation gewaltsamer Erkenntnisse anschaut – und Vergnügen daran findet. Denn zugleich liegt in dem voyeuristischen Betrachten der Selbsterkenntnis anderer auch die Möglichkeit, den eigenen Traum nicht aushalten zu müssen.
Im Falle Bottoms allerdings ist die Erinnerung an den Traum etwas prekärer. Im Verzauberungstraum passiert etwas, was in der Realität nicht sein darf. Wenn sich der Weber jetzt tatsächlich seinen Traum erzählen würde, statt im Unbewussten die Erinnerung aufzubewahren, dann wäre er vielleicht wirklich ein ganzer und nicht mehr nur ein halber Esel.
JUDITH LUIG, 31, ist taz.mag-RedakteurinIngrid Hotz-Davies und Anton Kirchhofer (Hsg.): „Psychoanaliticism“. Wissenschaftlicher Verlag Trier 2000Carla Mazzio und Douglas Trevor (Hsg.): „Historicism, Psychoanalysis, and Early Modern Culture“. Routledge, New York und London 2000 Der Aufsatz von Elisabeth Bronfen erscheint in: Sabine Schülting (Hsg.): „Shakespeare-Jahrbuch“. Verlag u. Druckkontor Kamp, Bochum