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Archiv-Artikel

„Aber Sexualität braucht Ordnung“

REINHARD MARX Ein Gespräch mit dem Erzbischof von München über die Missbrauchs-skandale in seiner Kirche, das Zölibat, den Ökumenischen Kirchentag, das Schöne am Protestantismus – und wie er selbst mit dem Hunger nach Nähe umgeht

Reinhard Marx

■ Reinhard Marx, geboren 1953 im westfälischen Geseke, gehört zu den wichtigsten Figuren der katholischen Kirche in Deutschland. Er studierte katholische Theologie in Paderborn und Paris und wurde 1979 zum Priester geweiht. Am Ende eines Zweitstudiums promovierte er zum Dr. theol. 1996 wurde er Professor für christliche Gesellschaftslehre an der Uni Paderborn. Ein Jahr später war er einer der Autoren des gemeinsamen Wortes der Kirchen zur sozialen Lage in Deutschland. Ende 2001 wurde er zum Bischof von Trier ernannt, im November 2007 zum Erzbischof von München. ges

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Herr Erzbischof Marx, wie lange wird der Missbrauchsskandal die Kirche noch beschäftigen?

Reinhard Marx: Er wird die Gesellschaft noch lange beschäftigen. Vor allem die Aufarbeitung dessen, was geschehen ist. Und wie ist es zukünftig zu vermeiden? Die Debatte wird sich nicht nur auf Missbrauch beschränken, sondern ausweiten auf die Frage von Macht und Sexualität, nicht nur in der Kirche, sondern in der Gesellschaft insgesamt.

Wie entwickeln sich die Austrittszahlen aus der Kirche in Ihrem Erzbistum?

Sie sind ohne Zweifel zu hoch, und wir werden erst in einigen Wochen die Zahlen genauer analysieren können. Man muss genau hinsehen: Natürlich ist der Blick auf die Missbrauchsfälle in der Kirche ein Schock, der uns sehr betroffen macht. Aber nur von daher auf das ganze Leben der Kirche und des Glaubens zu schauen, wäre nicht richtig.

Aber es gibt doch Diözesen, wo die Austrittszahlen richtig in die Höhe geschnellt sind.

Ich will da nichts beschönigen. Aber wenn man die Austrittszahlen der vergangenen 20 oder 30 Jahre anschaut, dann sieht man viele Schwankungen mit ganz unterschiedlichen Gründen. Ich selbst habe an diesem Osterfest mehr als dreißig zumeist junge Erwachsene getauft. Es gibt im Augenblick eben beides. Nun zu glauben, das Sterbeglöcklein für die Kirche bimmelt – so einfach ist es nicht. Aber es ist sicherlich ein Verlust an Vertrauen in die Kirche da, keine Frage. Das müssen wir Schritt für Schritt wieder gewinnen.

Der Trierer Bischof Stephan Ackermann hat bezüglich des Missbrauchsskandals in der Kirche gesagt, es gebe einen fehlgeleiteten Hunger nach Nähe bei manchen Priestern – glauben Sie, er hat Recht?

Das kann man so sagen. Aber das gilt für viele. Wir haben Kleriker, die Täter sind, aber auch Täter in der ganzen Gesellschaft. Und das ist das Beunruhigende, was ich bis jetzt auch nicht genau verstehen kann: Es gibt Täter in allen Bereichen und mit verschiedenen Hintergründen. Ein einheitliches Profil gibt es nicht.

Die These, sexueller Missbrauch habe etwas mit dem Zölibat zu tun, finden Sie nach wie vor nicht schlüssig?

Ja, nicht schlüssig. Dass man dem spezifisch Katholischen bei diesen Fragen nachgeht, finde ich legitim, das muss man tun. Das gilt aber auch für jede andere Gruppe und gesellschaftliche Organisation. Eine Erkenntnis ist sicher, dass das Verhältnis von Macht und Abhängigkeit ein Einfallstor für Missbrauch ist. Möglicherweise auch die Frage: Was bedeutet für einen, der Keuschheit versprochen hat, das Anerkennen der eigenen Geschlechtlichkeit? Aber wir wissen auch, dass die Ehe Pädophilie nicht verhindert.

Hat es etwas mit der Sexualmoral der Kirche zu tun?

Die katholische Kirche hat Pädophilie nie gebilligt. Und wenn man die einschlägigen Paragrafen selbst des Kirchenrechts von 1917 anschaut, dann waren für solche Vergehen die höchsten Strafen überhaupt vorgesehen.

Die Frage ist doch: Muss die Kirche über ihre Sexualmoral reden? Gibt es da noch eine Sexualfeindlichkeit oder nicht?

Wenn es so rüberkäme, hätten wir etwas falsch gemacht. Wie kann man deutlich machen, dass das, was die Kirche zur Sexualität sagt, grundsätzlich eine positive Aussage ist? Natürlich ist die Sexualität wie alle anderen Handlungen des Menschen, wo es um intime Nähe geht, auch gefährdet durch Machtmissbrauch und durch Ausnutzung des Anderen, durch Egoismus. Aber Sexualität ist eine positive Lebenskraft, die uns von Gott geschenkt ist. Das ist die Lehre der Kirche. Aber Sexualität braucht eine Ordnung, wenn sie nicht aus dem Ruder gehen soll. Die Sexualmoral der Kirche halte ich nicht für ein Problem. Wie sie verkündet oder wie sie dargestellt wurde, vielleicht schon. Warum gelingt es uns nicht, die kirchliche Sexuallehre als eine positive Herausforderung zu sehen, nicht als eine reine Verbotsmoral?

Das ist anspruchsvoll.

Das Leben ist anspruchsvoll! Der liebe Gott hat sich etwas gedacht bei der Erschaffung des Menschen, etwas Anspruchsvolles.

Wenn man jungen Leuten sagt, ihr dürft Sex erst in der Ehe haben, dann sagen doch viele, da höre ich nicht mehr hin. Zumal wenn zölibatär lebende Männer diese Lehre verbreiten.

Wenn die glaubwürdig leben, ist es doch gerade dann ein Zeichen! Da kann man deutlich machen, es gibt ein erfülltes Leben, das versucht, sich den Lebensstil Jesu ganz anzueignen – nicht aus eigener Kraft, dafür brauchen wir die Gnade Gottes. Das ist ja eine urchristliche Erkenntnis: Letztlich lebst du aus der Gnade. Du hast dich nicht selber gemacht. Du hast dich nicht selber erschaffen. Du bist erst einmal jemand, der danke sagt, danke, dass ich leben darf.

Dass Jesus zölibatär oder asexuell gelebt hat, ist nicht klar.

Meinen Sie.

Jüdische Jesus-Forscher wie Schalom Ben-Chorin haben nicht ausgeschlossen, dass Jesus verheiratet war.

Also, diese These kann man so nicht akzeptieren. Da sind wohl alle christlichen Kirchen und die meisten Exegeten der Meinung, dass es so war, wie es in der Heiligen Schrift dargestellt wird. Und die ganze Tradition der Kirche beruht ja darauf, dass das Zölibat eine Möglichkeit des Lebens ist. Jesus hat nicht gefordert, dass alle so leben.

„Es gibt keine Rückkehr-Ökumene. Wir gehen den Weg nach vorn. Es gibt keine Rückkehr. Das sind nostalgische Konzepte, die mir fremd sind“

Paulus hat doch aber die Ehe für Geistliche empfohlen, nicht wahr?

Er hat es umgekehrt gesagt: Ich möchte eigentlich, dass alle so leben wie ich.

Paulus schreibt im ersten Brief an Timotheus, er empfehle bei den Bischöfen die Ehe. Nur was sein eigenes Leben angehe, halte er sich wegen der Naherwartung der Wiederkehr Christi von der Sexualität fern.

Das Neue Testament ist das erste und wichtigste Zeugnis der Offenbarung, aber es ist kein Rezeptbuch. Die Kirche muss sich immer wieder durch das Neue Testament vergewissern, aber sie geht ihren Weg weiter. Und wir leben heute nicht in derselben Situation wie Paulus damals. Er musste Antworten auf die Fragen seiner Zeit finden. Und wir müssen Antworten auf die Fragen unserer Zeit finden.

Wie gehen Sie mit dem „Hunger nach Nähe“ um? Können Sie sie, sagen wir, umformen in eine Sehnsucht nach Jesus?

Ja, schon. Zum einen ist Nähe nicht ausgeschlossen. Es geht ja um das Maß der Nähe. Natürlich kann ein Priester keine sexuellen Beziehungen haben. Aber es gibt ja viele Menschen, die Nähe leben ohne sexuelle Beziehungen. Wie soll das denn für eine große Zahl von Menschen gehen, die sexuell nicht aktiv sind, etwa weil sie alleine sind oder verwitwet oder krank? Die sollen alle defizitär sein – nein, das ist nicht so! Das wäre eine seltsame Sicht des Menschen. Nähe besteht ja auch in Freundschaften. Ein Priester sollte Freunde haben, gastfreundlich, herzlich und aufmerksam sein. Und das muss man kulturell auch abstützen, es braucht ein Umfeld. Darum bemühe ich mich auch, etwa dass wir hier im Hause eine kleine Gemeinschaft bilden.

Gleichwohl: Könnte man nicht relativ problemlos auf das Zölibat verzichten? Es ging doch in der Kirchengeschichte auch viele Jahrhunderte ohne …

Die Diskussion darüber gibt es seit den Evangelien.

Dennoch könnte man es ziemlich einfach abschaffen.

Nein, das könnte man nicht. Das halte ich für eine etwas kurzatmige Analyse. Darüber zu diskutieren, ist theologisch nie verboten. Aber dass der Papst dies mit einem Federstrich ändern könnte, ist abwegig.

Wir müssen noch über den Ökumenischen Kirchentag, den ÖKT, und die Ökumene reden: Ist der Ärger durch das Vatikan-Schreiben „Dominus Iesus“ vor zehn Jahren nun vorbei, das den protestantischen Kirchen ihr Kirche-Sein nach katholischem Verständnis absprach? Damals zeigten sich einige Bischöfe der evangelischen Kirche verletzt. Das traf tief.

Ich kann verstehen, dass man da so reagiert hat. Aber dieser Text hat ja keine Veränderungen gebracht zu dem, was die katholische Kirche sonst gesagt hat, sondern hat das Gesagte noch einmal verdeutlicht.

Das Schmerzhafte wurde zweimal bekräftigt.

Auch die evangelische Vorstellung, wie etwa die Einheit der Kirchen aussehen könnte, hat sich in den vergangenen Jahren ja etwas verändert. Die Zielvorstellungen werden aus evangelischer Sicht heute anders beschrieben. Es gibt ja in der evangelischen Kirche Dokumente, die den Dialog beschweren, auch wenn sie nicht so wahrgenommen werden. Da geht es nicht mehr um die sichtbare Einheit der Kirchen, sondern um die gegenseitige Anerkennung.

„Die Ökumene der Profile“.

Ja, bis dahin, dass manche Protestanten sagten: Wir müssen eigentlich gar nicht viel bei uns ändern, wir warten nur noch darauf, dass die katholische Kirche uns anerkennt, fertig. Dann brauchen wir eigentlich keine ökumenischen Dialoge mehr. In der Öffentlichkeit hört man manches Unwissende und Unverständnis: „Was machen die Theologen denn? Jesus ist doch lieb, und Gott ist groß.“ Das ist unter dem Niveau, das wir im ökumenischen Dialog längst haben. Das wollen unsere evangelischen Brüder und Schwestern ebenfalls nicht. Wir wollen alle eine anspruchsvolle Ökumene. Wir müssen einander mit Wertschätzung begegnen und die theologischen Fragen ernsthaft besprechen.

Glauben Sie an eine Rückkehr-Ökumene, dass die protestantischen Kirchen eines Tages zur katholischen zurückkehren?

Es gibt keine Rückkehr-Ökumene. Das kann nicht sein. Wir gehen den Weg nach vorn. Es gibt überhaupt keine Rückkehr irgendwohin. Das sind nostalgische Konzepte, die mir fremd sind.

„Warum gelingt es uns nicht, die kirchliche Sexuallehre als eine positive Herausforderung zu sehen, nicht als eine reine Verbotsmoral?“

Auch der Papst denkt nicht mehr daran?

Nein. Der Papst hat viel zur Ökumene publiziert, viel Positives. Und wie ich den Papst einschätze, distanziert er sich von seinen früheren Texten nicht. Der Papst wendet sich nicht vom 2. Vatikanischen Konzil ab. Davon kann man überhaupt nicht sprechen.

Glauben Sie, an der These ist etwas dran, der heutige Papst habe 1968 eine Art Schock bekommen, die bewirkt hat, dass sich seine ganze Theologie hin zum Bewahren des Alten gewendet hat?

Fragen Sie ihn selbst. Vielleicht kann die taz ja ein Interview mit ihm führen.

Jederzeit!

Wenn man die Schriften des Papstes liest, muss man vermuten, dass ihm damals deutlich geworden ist: Hier passiert etwas, was nicht dem Glauben der Kirche und dem Konzil entspricht.

Beim ÖKT ist kein gemeinsames Abendmahl geplant. Vor sieben Jahren haben Sie als zuständiger Bischof den Priester und Theologen Gotthold Hasenhüttl abgemahnt, weil er ein solches Abendmahl gefeiert hatte. Warum haben Sie ihm auch das Priesteramt entzogen?

Es war eine Suspension. Das heißt, eine Bitte, dass er sich wieder bewegt und seine Position ändert.

Wenn er das täte, könnte er also wieder sein Priesteramt wahrnehmen?

Ja, sicher.

Aber war Ihre Reaktion damals nicht ziemlich hart?

Es war schwer für mich. Auch weil ich wusste, dass das öffentliche Auswirkungen hat. Aber es gab für mich keine andere Möglichkeit.

Beim Kirchentag in München wird nun statt des gemeinsamen Abendmahls eine Art orthodoxe Agape-Feier begangen. Ist das nicht nur ein fauler Kompromiss?

„Die Sexualmoral der Kirche halte ich nicht für ein Problem. Wie sie verkündet oder wie sie dargestellt wurde, vielleicht schon“

Nein, es ist ja keine Eucharistiefeier. Die orthodoxen Kirchen sind in diesen Fragen der Ökumene eher noch genauer und strenger als die katholische Kirche. Das gemeinsame Essen ist ein Zeichen der Verbundenheit.

Zum Abschluss: Was gefällt Ihnen am Protestantismus?

Ich war in meiner ersten Stelle als Priester in einer sehr evangelischen Gegend, das war die Mehrheitskirche, wir waren die Minderheit. Da habe ich zum Beispiel Freude daran gefunden, wie viele der Kranken, die ich im Krankenhaus besucht habe, noch ihren Konfirmationsspruch als Leitmotiv für ihr Leben haben.

„Der Herr ist mein Hirte.“

Zum Beispiel. Das wussten sie sofort. Das hat mich beeindruckt. Oder auch, wenn man an einer evangelischen Abendmahlfeier teilnahm …

durften Sie da teilnehmen?

Ja, ich bin ja nicht zum Abendmahl gegangen. Aber das war sehr würdig und gut gestaltet. Durchaus beeindruckend. Was mir auch gefällt, ist die großartige Kirchenmusik und die Leidenschaft für die Heilige Schrift. Und Martin Luther war ein starker Theologe, keine Frage.

Was erhoffen Sie sich vom Ökumenischen Kirchentag?

Vor allem, dass die Gottesdienste zu einer geistlichen Erfahrung, zu Impulsen werden! Die Gesellschaft braucht das öffentliche Zeugnis, das Gemeinsame der Christen, gerade jetzt. Die moderne Gesellschaft ist immer vielfältig. Aber wenn die Stimme der Christen fehlen würde, wäre es verheerend.