: Lateinamerikas neue alte Linke
Die neoliberalen Konzepte sind auf dem Subkontinent gescheitert. Aller Rhetorik zum Trotz setzt aber auch die Linke Südamerikas auf althergebrachten Wachstumsglauben
Ein Gespenst geht um in den Medien des Westens – das Gespenst eines Linksrucks in Lateinamerika. Weil Washington den Subkontinent vernachlässigt habe, heißt es allenthalben, gäben dort zunehmend Populisten den Ton an, allen voran Hugo Chávez. Dass Evo Morales in Bolivien am 1. Mai symbolträchtig die Nationalisierung des Energiesektors verkündet hat, sei ein Sieg des Venezolaners und eine Niederlage des Brasilianers Luiz Inácio Lula da Silva, diagnostiziert The Economist und verkündet unaufhörlich: „Die Populisten führen Lateinamerika in eine Sackgasse“.
Diese Zweiteilung zieht sich durch nahezu alle Berichte und Analysen über Lateinamerikas Linke: Hie die „vernünftigen Sozialdemokraten“ Lula, Michelle Bachelet aus Chile oder Uruguays Tabaré Vázquez, da die „Populisten“ Chávez, Morales, der peruanische Präsidentschaftskandidat Ollanta Humala oder – mit Abstrichen – Néstor Kirchner aus Argentinien.
Wenn sich hohe Funktionäre der US-Regierung dieser Schwarzweißmalerei mit der ihnen eigenen Vehemenz bedienen, fühlt man sich an den Kalten Krieg erinnert. Doch das Panorama ist komplexer, als dies der Kampfbegriff „Populismus“ und der in Lateinamerika wenig aussagekräftige Terminus „Sozialdemokratie“ suggerieren: So liegt Washingtons Lieblingsprojekt, die gesamtamerikanische Freihandelszone Alca, nicht nur wegen des Vetos Venezuelas, sondern vor allem wegen der Einwände Brasiliens und Argentiniens auf Eis.
Auch der Widerstand gegen einseitige Zugeständnisse an die Multis des Nordens, den Brasilien im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO bündeln half und den die Staatschefs der EU in wenigen Tagen in Wien zu spüren bekommen, steht auf einer breiteren Basis. Chávez stößt mit seiner Erdöldiplomatie Türen auch abseits der Achse Havanna–Caracas–La Paz auf: in der Karibik etwa oder im Mercosur, der Ende letzten Jahres den Beitritt Venezuelas als Vollmitglied beschlossen hat. Der in Venezuela konzipierte Sender Telesur, an dem neben Kuba und Bolivien auch Uruguay und Argentinien beteiligt sind, wächst zu einer bemerkenswerten Alternative zu den US-Nachrichtenkanälen heran. Dass neoliberalen Konzepten an den Wahlurnen eine Absage nach der anderen erteilt wird, zuletzt in Peru, hat also Folgen: Ende 2006, nach den Wahlen in Mexiko, Ecuador und Nicaragua, könnten 80 Prozent aller LateinamerikanerInnen von linken Staatschefs regiert werden.
Der Umbruch in der Region geht mit Krisen einher, die von den USA gezielt geschürt werden: Durch den unseligen „Drogenkrieg“ verhindern sie seit zwanzig Jahren in Kolumbien einen Friedensschluss und das Aufkommen einer schlagkräftigen zivilen Linken. Durch ihre Freihandelsoffensive konzentrieren sie sich nach dem Alca-Stillstand auf den Abschluss von bilateralen Handelsverträgen und schwächen die fragilen Regionalbündnisse Andengemeinschaft und Mercosur weiter. Ausgerechnet Uruguays Linksregierung geht derzeit auf Schmusekurs mit Washington, auch, weil sie sich ähnlich wie Paraguay von den großen Mercosur-Partnern Argentinien und Brasilien immer wieder übergangen fühlt.
Die Regierungslinke um Lula, Kirchner und Chávez versucht, einen löblichen Beitrag zu einer multipolaren Weltordnung zu leisten. Dabei geht sie punktuell Bündnisse mit globalisierungskritischen Basisgruppen ein, deren Gewicht von Land zu Land stark variiert: In Ecuador haben diese bislang das Freihandelsabkommen mit den USA verhindert, das vor allem die indigenen Kleinbauern existenziell bedroht. In Venezuela könnten die zunächst gestärkten sozialen Bewegungen mittelfristig von der übermächtigen Führerfigur Chávez erdrückt werden. In Chile, Bolivien, Argentinien oder Brasilien schwankt ihr Verhältnis zu den Staatschefs zwischen Kooperation und Protest.
Innenpolitisch nämlich fällt die Zwischenbilanz der rosarot geführten Regierungen durchwachsen aus: Machtkonstellationen jenseits der Regierung führen dazu, dass Umverteilungsmaßnahmen wie Land- oder Steuerreformen ausbleiben. In der Haushaltspolitik ist die neoliberale Hegemonie noch lange nicht überwunden: Gerade die Finanzpolitik in Lulas Brasilien besteht bislang in der fantasielosen Fortsetzung eines Sparkurses und einer Hochzinsorthodoxie, als sei der ultraliberale „Washington-Konsens“ nicht bereits überholt.
Tatsächliche oder vermeintliche weltwirtschaftliche Sachzwänge lassen die linken Latinos vor einem Schuldenmoratorium zurückschrecken. Damit fehlt das Geld für soziale Maßnahmen. Erneut bildet Chávez die große Ausnahme: Die Erdölbonanza, die er paradoxerweise dem Irakkrieg zu verdanken hat, erlaubt ihm die Umsetzung umfangreicherer Bildungs- und Gesundheitsprogramme.
Gemeinsam ist den Linken von Bachelet bis Kirchner ein ungebrochener Wachstumsglaube. Sie setzen auf umweltfeindliche Monokulturen in Agro- und Forstindustrie (Gensoja, Eukalyptus) oder problematische Großprojekte, zu denen auch die von Chávez angeregte Riesengaspipeline von Venezuela bis Argentinien zählt. Durch den Bau von Großstaudämmen, Atomkraftwerken, Zellulosefabriken oder die Förderung von Kupfer und Gold möchten sie den Anschluss an die Moderne erreichen. Doch indem sie ihre Länder weiterhin zu Lieferanten von kaum weiter verarbeiteten Rohstoffen und Agrarprodukten degradieren, schreiben sie deren neokoloniale Abhängigkeit fort. Seit jeher bezahlt die Zeche meist die Bevölkerung vor Ort: Es sind Kleinbauern oder Indígenas, die durch ihren erzwungenen Exodus das Millionenheer in den städtischen Armenvierteln anschwellen lassen. Dort sind die Zukunftsperspektiven unverändert düster.
Die neuen Linken sind geschickte Technokraten der Macht: Sie haben als politische Führungskaste regierende Militärs oder, häufiger, die traditionellen bürgerlichen Parteien abgelöst, ohne den Kapitalismus in Frage zu stellen – selbst Chávez’ „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ist nur ein vages Versprechen. Durch Sozialprogramme halten sie die Armen bei Laune und versuchen dadurch ihre Wiederwahl zu sichern – „Populisten“ allesamt. Echte Mitsprache bei der Regierungspolitik ist nicht erwünscht, das zeigt das Beispiel Brasilien: Konsterniert verfolgen Mitglieder von Lulas Arbeiterpartei dessen konservative Finanzpolitik ebenso wie die von seinem Führungszirkel organisierten Korruptionsaffären. Eine Klärung fand nicht statt. Die Banken streichen Rekordgewinne ein, die Industriellen grummeln, die Lohnzuwächse für die Arbeitsplatzbesitzer sind bescheiden. Im Wahljahr 2006 gilt es jedoch, die Reihen zu schließen und die Regierungsmacht gegen eine aggressive Rechte zu sichern. Entscheidend bleibt der Druck von unten.
In Bolivien wäre es ohne die Mobilisierung der Volksbewegung nie zur Nationalisierungsoffensive gekommen. Dass ihm jetzt nicht nur Chávez, sondern auch Kirchner und Lula zur Seite stehen, lässt hoffen, trotz allem.
GERHARD DILGER