: Schwere Genesung
STEREOTYPE Der kinderschändende Homosexuelle ist auferstanden. Schwule Lehrer überrascht das nicht
■ Der Termin: Der International Day Against Homophobia (IDAHO) wird seit 2005 jeweils am 17. Mai begangen. Ziel des Tages war es von Beginn an, internationale Aktivitäten zu koordinieren und Respekt für Lesben und Schwule einzufordern. Aktionen weltweit unter: www.idahomophobia.org
■ Das Datum: wurde zur Erinnerung an jenen 17. Mai 1992 gewählt, an dem die Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel strich. Schöner Zufall ist die Parallele zwischen dem Datum 17. 5. und dem ehemaligen Paragraphen 175. ■ Der Hintergrund: Homosexualität ist noch immer in rund siebzig Ländern strafbar; in sieben Ländern – Iran, Nigeria, Sudan, Jemen, Mauretanien, Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten – werden homosexuelle Handlungen mit der Todesstrafe belegt.
VON MARTIN REICHERT
Die größte Wunderheilung der Menschheitsgeschichte trug sich vor genau zwanzig Jahren zu: Am 17. Mai 1992 strichdie Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel. Geschätzte fünf Prozent der Menschheit, die zuvor unter dem Kassenkürzel 302.0 als krank eingestuft wurden, waren nun mit einem Schlag gesund. Bis zu diesem Datum war es ein weiter Weg für die Homosexuellen: Sie waren zunächst Sünder und Widernatürliche, dann Kranke und erst am Ende des zweiten Jahrtausends ganz normale Leute von nebenan. Offiziell zumindest.
An diesem 17. Mai wird nun der „International Day against Homophobia“ begangen. Organisiert von der ILGA, der International Lesbian and Gay Association, ist er jedoch kein Feiertag, sondern weiterhin ein Tag, der dem Kampf um Emanzipation gewidmet ist. In rund siebzig Ländern ist Homosexualität noch immer strafbar. In sieben Ländern – Iran, Nigeria, Sudan, Jemen, Mauretanien, Saudi-Arabien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten – werden homosexuelle Handlungen mit der Todesstrafe belegt.
In Deutschland wiederum wurden gerade in den beiden letzten Jahrzehnten große Fortschritte erzielt – so große, dass man es sich nun leisten kann, über den eigenen Tellerrand zu schauen und sich mit den Betroffenen in anderen Ländern zu solidarisieren. So veranstaltet das schwule Antigewaltprojekt Maneo am 17. 5. ein „Kiss In“ vor der Botschaft Ugandas. In diesem Land erwägt man, die Todesstrafe für Homosexuelle einzuführen. Unterstützt durch evangelikale Gruppen aus den USA, dem Vorbild der Demokratie.
Nein, die Homophobie ist dann wohl doch kein ausschließliches Problem in Ländern der zweiten oder dritten Welt und auch keines des Islam. So feiert gerade in Deutschland das Stereotyp des kinderschändenden Homosexuellen ein Comeback. Aufgrund zahlreicher Fälle von mann-männlicher sexueller Gewalt, ob nun in kirchlichen Internaten oder in der reformpädagogischen Anstalt, sind sich viele Menschen im Moment doch nicht mehr so sicher, ob Homosexualität und Pädophilie nicht zwei Seiten einer Medaille sind. Trotz des WHO-Befundes von 1992 und trotz aller Studien, die längst das Gegenteil beweisen.
„Man streicht was von der Liste, aber es ist nicht alles abgetragen“, sagt der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker. Der Doyen der modernen deutschen Schwulenbewegung, Jahrgang 1942, ist überrascht. „Was eigentlich längst getrennt war, Homosexualität und Pädophilie, kommt nun in der öffentlichen Debatte wieder zusammen. Man dachte, das sei längst klar. Aber Stereotype sind hartnäckig.“ Unter diesem Stereotyp liegt unter anderem die zwar unbegründete, aber nach wie vor vorhandene Befürchtung, dass junge Menschen zur Homosexualität verführbar seien. Und die Vorstellung, dass sich Schwule hauptsächlich zu jungen Männern hingezogen fühlen – außer Acht lassend, dass der Jugendkult die gesamte Gesellschaft betrifft. Das jetzige Aufflackern dieser tradierten Vorurteile hängt laut Dannecker mit der Häufung öffentlich verhandelter Fälle von mann-männlicher sexueller Gewalt zusammen, während sonst in der Regel über missbrauchte Mädchen berichtet würde. Martin Dannecker erklärt sich dieses Zurückfallen in Vor-68-Diskurse mit den stabilen Wertemustern der älteren Generationen und verweist auf die wiederum stabile Offenheit der jüngeren Menschen: „Die aktuelle Debatte wird die Stellung der Schwulen in der Gesellschaft nicht gefährden, es handelt sich nur um eine vorübergehende Irritation.“
Eine Irritation, die scheinbar ausreicht, um einen schwulen Lehrer an der Schule Schloss Salem zu entlassen. Man hatte ihm „distanzloses Verhalten“ gegenüber seinen Schülern vorgeworfen. Konkret: Er soll einem Jugendlichen in unpassender Weise von seiner sexuellen Orientierung erzählt haben. „Der Fall Salem zeigt, wie ein gut gemeinter Opferschutz in einer aufgeladenen Situation zu Überreaktionen führt – obwohl sexuelle Gewalt gar nicht im Spiel war“, sagt Ulf Höpfner. Der 38-Jährige ist Lehrer am Diesterweg-Gymnasium im Berliner Stadtteil Wedding und aktiv in der „AG Homosexuelle Lehrer der GEW Berlin“.
Martin Dannecker, Sexualwissenschaftler
Er selbst ist von der aktuellen Verknüpfung von Pädophilie mit Homosexualität nicht besonders überrascht: „Die Situation war immer schwierig, weil der latente Generalverdacht nie ausgeräumt wurde. In Deutschland werden diese Vorbehalte, etwa im Vergleich zu Polen, nicht mehr offen ausgesprochen, sie sind aber noch vorhanden. Das ist aber nur eine andere Form der Tabuisierung.“ Aus persönlicher Erfahrung berichtet Höpfner, dass er, schon um eventuellen Vorwürfen vorzubeugen, die Grenzen zwischen ihm und seinen männlichen Schüler deutlicher und früher ziehe als etwa heterosexuelle männliche Kollegen gegenüber ihren Schülerinnen. Höpfner sagt aber auch, dass er im Moment weder eine atmosphärische Änderung in seiner Schule verspüre oder gar Anzeichen von Hexenverfolgung: „Wir diskutieren sehr sachlich mit den Schülern über aktuelle Meldungen von Missbrauchsfällen.“
Höpfner setzt weiterhin auf eine emanzipatorische, offene Sexualerziehung, die den Kindern Vertrauen in ihre Gefühle schenken soll und das Wissen vermittelt, sexuelle Gewalt als solche zu erkennen. Er fordert diese Auseinandersetzung auch im Rahmen der Lehrerausbildung: „Es geht darum, sich mit den eigenen Schamgrenzen und Unsicherheiten auseinanderzusetzen.“
Am Ende hilft wohl doch kein Wunder, sondern nur die manchmal anstrengende Aufklärung – gegen einen verpflichtenden Sexualunterricht an deutschen Schulen gibt es allerdings nach wie vor hartnäckigen, meist religiös motivierten Widerstand.