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Archiv-Artikel

„Es ist viel schlimmer“

ÖLKATASTROPHE Die Bewohner des Mississippi-Deltas sind besorgt – aus dem Leck im Golf von Mexiko sprudelt mehr Öl als gedacht

„Wir haben immer gesagt, dass die Ölmenge nicht schätzbar ist“

MARK PROEGLER, BP-SPRECHER

AUS NEW ORLEANS DOROTHEA HAHN

Die Ölmenge, die in den Golf von Mexiko ins Meer strömt, könnte bis zu 12-mal so groß sein wie bislang angenommen. Nach Ansicht von WissenschaftlerInnen verschiedener Universitäten in den USA strömen täglich zwischen 20 und 100.000 Barrel in den Golf – statt 7.000 Barrel, wie bislang von der US-Küstenwache erklärt. Ein Barrel sind 159 Liter.

Unterdessen wächst in den „Wetlands“ im Mississippi-Delta die Sorge vor den Folgen der heimtückischen Ölpest. Billy Nungesser, Gemeindepräsident von Plaquemines, fürchtet sowohl das Anschwappen des Öls unter „normalen“ Bedingungen als auch die Gefahr eines tropischen Sturms. In wenigen Wochen beginnt die Hurrikan-Saison. „Das würde das Öl tief in unsere Feuchtgebiete hineindrücken“, sagt Nungesser. Damit wäre die Katastrophe für Fischerei, Tierwelt und Tourismus perfekt.

Die WissenschaftlerInnen in Kalifornien, Washington D. C. und Texas kommen zu ihrer pessimistischen Einschätzung, nachdem sie einen 31-Sekunden-Film analysiert haben. Der Film zeigt die ersten öffentlich zugänglichen Bilder von dem Loch am Seeboden. Der Mineralölkonzern BP, der die am 20. April explodierte Bohrplattform „Deepwater Horizon“ und die unterseeische Ölquelle ausbeutete, hat ihn am Mittwoch dieser Woche auf Druck von Umweltgruppen und Wissenschaftlern freigegeben.

Kerry St. Pe’, der in Louisiana die Küstenschutzgruppe „Barataria-Terrebonne National Estuary Programm“ leitet: „Dies ist keine begrenzte Menge von Öl. Es ist viel, viel schlimmer. Es ist ein Fluss von Öl, der sich jeden Tag in den Golf ergießt und der nach Ansicht der Behörden noch monatelang weiter fließen wird.“

BP zeigt sich von den alarmierenden neuen Zahlen ungerührt. „Wir haben von Anfang an gesagt, dass die Ölmenge, die ins Meer geht nicht schätzbar ist“, sagt Mark Proegler, ein Sprecher des Konzerns, im Interview mit einem Radiosender in den USA. Das Sumpfland auf beiden Seiten des Mississippi-Deltas ist das größte Feuchtgebiet der USA. Es ist ein gefährdetes, ein schrumpfendes Land.

Unter „normalen“ Bedingungen verschwindet in den „Wetlands“ alle 38 Minuten ein Stück Festland in der Größe eines Fußballplatzes. Hurrikane verschlingen auf einen Schlag ein Vielfaches. Das Biotop – in dem Vögel nisten und Alligatoren, Schildkröten, Fische und Muscheln leben – ist entstanden aus den Ablagerungen, die der Mississippi aus dem Norden mitbringt. Überflutungen im Mündungsdelta brachten immer neuen Lehm und damit Dünger für die Wetlands.

Im Laufe des 20 Jahrhunderts haben erst Deiche und Schleusen – und ab den 50er-Jahren immer mehr Kanäle – einerseits für eine Absicherung vor den Flutkatastrophen gesorgt und andererseits das biologische Gleichgewicht der Region zerstört.

Erschwerend hinzu kommt der unterirdische Reichtum der Wetlands: Unter ihnen befinden sich die größten Erdöl- und -gas-Vorkommen der USA. Um an sie heranzukommen, sie abzubauen und zu transportieren, hat die Mineralöl-Industrie das Gebiet komplett umgebaut. Inmitten der Wetlands befinden sich zahlreiche Raffinerien. Quer durch die Wetlands verlaufen breite Kanäle, über die die Ölkonzerne ihr Material transportieren. Darunter sind Pipelines verlegt.

Der unterirdische Abbau des Öls und die oberirdische Kontrolle des Wasserhaushaltes haben die Wetlands der Erosion preisgegeben. In das Gebiet, das ursprünglich von Süßwasser getränkt war, dringt nun durch die großen Kanäle Salzwasser ein. Viele Pflanzen, darunter Bäume mit tiefen Wurzeln, können in dem Salzwasser nicht überleben. Und der fruchtbare Lehm, den der Mississippi dereinst in die Wetlands schwemmte, fließt heute direkt ins Meer.

Ein fatales Resultat dieser Landschaftsveränderung zeigte sich bei dem Hurrikan „Katrina“, bei dem 2005 mindestens 1.836 Menschen in Louisiana ums Leben kamen: Der Sturm konnte – fast ungebremst von den verschwundenen Wäldern im Feuchtgebiet – bis ins Hinterland wirbeln. Ein anderes Resultat ist der rasant fortschreitende Verlust von Land an das Meer. Diese Erosion verläuft so schnell, dass selbst die GPS-Karten nicht mithalten. Wenn die Fischer von Venice, am Südzipfel von Louisiana, schon im Meer sind, zeigen ihre GPS-Geräte immer noch „Festland“ an. Falls die Ölpest über menschengemachte Kanäle in die natürlichen Wasserläufe „Bayous“ und die Seen im Wetland eindringt, wird sie die Erosion des empfindlichen Biotops noch beschleunigen.