Jeder hat seine Gründe

Die Logik des Verdachts: In seinem Regiedebüt „Schläfer“ entwirft Benjamin Heisenberg ein in intelligenter Distanz entwickeltes realitätsnahes Drama um Terrorangst, Konkurrenz und Paranoia

von SVEN VON REDEN

Ohne Vertrauen ist alles Fiktion, stand als eine Art Motto über dem Drehbuch von „Schläfer“. Den Satz hat sich der Drehbuchautor und Regisseur Benjamin Heisenberg von dem Künstler Douglas Gordon geborgt. Von Anfang an wird „Schläfer“ von einem Blick des Verdachts geprägt, der die Grenze zwischen Realität und Phantasma verwischt. Bereits in der ersten Szene erzeugt Heisenberg mit ähnlichen Mitteln wie Francis Ford Coppola am Beginn seines Paranoia-Thriller „The Conversation“ ein ungutes Gefühl der Dauerbeobachtung. Mit langer Linse und Richtmikrofon zeichnet eine Kamera aus dem Unterholz eines Parks ein Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau auf, aus dem hervorgeht, dass die Frau für den Verfassungsschutz arbeitet; sie versucht, den jungen Mann zu überzeugen, an seinem neuen Arbeitsplatz seinen algerischen Arbeitskollegen zu beobachten.

Von da an ist jeder Blick des jungen Biologen Johannes (Bastian Trost) auf Farid (Mehdi Nebbou) vergiftet. Jedes Detail, jede Handlung und Geste des Algeriers wird durch eine voreingenommene Wahrnehmung gefiltert: Sind Farids Freundlichkeit, sein Humor, seine Trinkfreudigkeit nur Fassade? Warum spricht er plötzlich Arabisch mit einem Fremden, als Johannes in Hörweite kommt? Warum sind in seiner Wohnung die Fenster mit Silberpapier zugeklebt? Heisenberg vermeidet es, die Hinweise eindeutig werden zu lassen. Er spielt mit den Genreerwartungen, die das Hollywoodkino vorgibt. Doch „Schläfer“ entwickelt sich nicht zum Thriller, in dem sich nach und nach die Details zu einem schlüssigen Bild eines Verbrechens fügen. Und erst recht wird Johannes nicht zum Helden, der an der Gefahr wüchse. Die Verschwörung bleibt Theorie, die Teile wollen sich nicht zu einem Ganzen fügen – hier erweist sich Heisenberg als Schüler Jacques Rivettes.

Es geht dem Regisseur und Autor in seinem Debüt um das Psychogramm einer Verunsicherung, bei dem sich Terrorismusangst mit einer weitergehenden gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit verschränkt. „Weißt du, was das Schlimmste im Leben ist? Dass man jeden Menschen verstehen kann, jeder hat seine Gründe“, meint Johannes in einer Szene zu Farid. In diesem Moment hat der Biologe bereits einen Schlingerkurs zwischen Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz und Verweigerung hinter sich. Johannes will das Richtige tun, aber ihm fehlt die klare eigene Position, um den Avancen der Staatsschützer zu widerstehen, als er zunehmend privat und beruflich in Konkurrenz zu Farid tritt.

„Jeder hat seine Gründe“ – einer der Schlüsselsätze aus Jean Renoirs Meisterwerk „La règle du jeu“. Wie Renoir versucht Heisenberg dem Zuschauer das Verhältnis zu seinen Figuren nicht vorzugeben. Er bleibt auf Distanz auch in dramatischen Momenten, beobachtet geduldig, anstatt auf Emphase zu setzen. Johannes’ Verhalten erscheint ebenso verständlich wie verwerflich, in Bastian Trosts zurückgenommener Darstellung wird der Protagonist zur Projektionsfläche für die moralischen Konflikte des Publikums. Das würde nicht funktionieren, wäre die Arbeits- und Lebenswelt der Protagonisten nicht so realistisch getroffen. Dass Heisenberg selbst aus einer naturwissenschaftlich geprägten Familie kommt, dürfte dabei geholfen haben. Die Art des Humors, der Umgang miteinander bei Arbeit und Freizeit, die Kneipen, die besucht werden, die Treffen zu LAN-Partys – Heisenberg verortet seine Nachwuchswissenschaftler in einem Umfeld, das man im deutschen Film selten so lebensnah präsentiert bekommt.

Mit dieser Mischung aus neuem Realismus und verzerrter Perspektive ist Heisenberg nicht allein. Nächste Woche kommt Christoph Hochhäuslers zweiter Film „Falscher Bekenner“ in die deutschen Kinos, der einen ähnlich genauen Blick auf den westdeutschen Alltag wirft, diesen aber so lange mit den Fantasien seines heranwachsenden Protagonisten unterwandert, bis am Ende nicht mehr klar ist, was überhaupt noch von dieser Realität übrig bleibt. Heisenberg hat zusammen mit Hochhäusler bereits das Buch zu dessen Debütfilm „Milchwald“ geschrieben, in dem die Realität des deutsch- polnischen Grenzgebietes mit der Grimm’schen Märchenwelt konfrontiert wird. In dieser Grauzone zwischen einem Realismus jenseits von Wackelkamera-Konventionen und Traum, Phantasma, Mythos oder Paranoia arbeiten zurzeit auch andere junge deutsche Regisseure wie Ulrich Köhler und Valeska Griesebach. Es ist ein Feld, das so weit gesteckt ist, dass es sehr unterschiedliche filmische Handschriften zulässt, aber dennoch einen Rahmen bietet, der auch ästhetisch den mittlerweile viel zitierten Begriff der nouvelle vague allemande rechtfertigt.

„Schläfer“, Regie: Benjamin Heisenberg. Mit Bastian Trost, Mehdi Nebbou u. a., Deutschland/Österreich 2005, 100 Min.