: Die Pharma-Selbstlüge
MEDIKAMENTE Der nächste Skandal kommt bestimmt? Aber sicher! Schuld daran sind allerdings nicht allein die Arzneimittelhersteller
■ ist Biochemikerin und Wissenschaftsjournalistin in Berlin. Seit drei Jahren begutachtet sie für den „Medien-Doktor“ Publikumsbeiträge zu Gesundheitsthemen.
Vor einigen Tagen lief im ZDF ein Dokudrama über den Bluter-Skandal in den frühen Achtzigern. Es geht in dem Film um drei erbkranke Jungs. Brüder. Ihr Blut gerinnt nicht, sie können an kleinen Verletzungen verbluten, selbst von innen, durch Blutergüsse. Anfang der Siebziger zeigt der Arzt ihnen dann eine neues Medikament: Faktor VIII, gewonnen aus Spenderblut. Sie können es selbst spritzen.
Erst ist es der Himmel: Das Mittel schenkt den Brüdern ein normales Leben. Ein Jahrzehnt später wird es zur Hölle: Das Präparat infiziert alle drei mit HIV. Weil, so sagt es der Film, gierige Pharmaindustrielle keine Skrupel haben. Für Geld geht jeder Arzneimittelkonzern über Leichen.
Das Schlimme an diesem Film ist nicht die Nähe zum echten Schicksal, zu den Tatsachen. Es gibt die Toten, die Tragödie, und Schuldige gibt es auch. Die damaligen Vertreter der Pharmaindustrie gehören dazu. Die Geschichte, die da erzählt wird, ist so gesehen gar nicht falsch. Vielleicht lassen sich derlei Geschichten im Fernsehen ohnehin nicht anders erzählen.
Es gibt keine Unabhängigkeit
Und trotzdem, etwas haftet an diesem Film und auch an seiner Rezeption, das Unbehagen erzeugt. Es sind die überkommenen Schablonen, mit denen die Akteure gezeichnet sind und für die der Streifen von Kritikern auch noch gelobt wurde: Die Kranken sind Helden und Opfer. Mediziner sind gefangen in ärztlicher Hybris, sie wollen die Realität nicht sehen. Politiker scheuen sich zu handeln, sie sind feige. Und der wirklich böse Bube ist und bleibt letztlich die kriminelle Pharmaindustrie.
Ja und, stimmt das denn etwa nicht? Contergan, Vioxx, Lipobay, Tamiflu, kontaminierte Grippeimpfstoffe, es ist wie mit dem Fleisch in der Lebensmittelindustrie: Der nächste Pharmaskandal kommt bestimmt. Übersehen wird dabei allerdings, dass es sich in den meisten Fällen eben nicht um schlichte Grenzüberschreitungen eines skrupellosen Serientäters handelt, der sich nicht an die Gesetze halten will und diesen Unwillen mithilfe seiner Lobby durchdrückt. Sondern um eine strukturelle Problematik, an der auch Wissenschaftler, Fachverlage, Ärzte, Apotheker, Medien, Politiker und ja sogar die Patienten beteiligt sind. Sie alle werden ihrer Verantwortung nicht wirklich gerecht – neben der Pharmaindustrie, die allerdings auch nie unabhängig agieren wird, schon weil sie Geld erwirtschaften muss.
Wo aber liegt das Problem? Ein wichtiger Teil stellt das Zulassungssystem von Medikamenten dar, insbesondere die Transparenz von Studiendaten und deren Publikation im Vorfeld solcher Zulassungen.
Wie „Bad Pharma“ entsteht
Erst vor wenigen Tagen erschien im British Medical Journal wieder eine Arbeit über die Veröffentlichungspraxis von medizinischen Studien, dieses Mal ging es um Großstudien mit mehr als 500 Teilnehmern, genauer um sogenannte randomisierte Studien, also Untersuchungen, für die Patienten nach dem Zufallsprinzip bestimmten Testgruppen zugeordnet werden, was die Qualität der Ergebnisse deutlich erhöht. Laut BMJ blieb aber ein knappes Drittel aller Resultate aus diesen aussagekräftigen Untersuchungen unveröffentlicht. Kurzum: Wenn die Ergebnisse nicht nach Wunsch ausfielen, wurden sie in einer Schublade vergraben.
Das kommt natürlich zuerst der Pharmaindustrie zugute. Beteiligt sind aber genauso die Wissenschaftler, die solche Studien planen und ausführen, denen es um die Finanzierung kommender Forschungsvorhaben geht und die deshalb auf eine Publikation verzichten. Und selbst wenn sie die Resultate veröffentlichen wollen: Auch viele wissenschaftliche Journale verkünden lieber Durchbrüche, als über einen Flop zu berichten.
In der Ärzteschaft ist dieser Umstand zwar bekannt, aber viele Mediziner machen sich nicht einmal mit den veröffentlichten Studien vertraut. Wie soll ihnen da auffallen, was fehlt? Und warum sollten sie nicht weggucken, wenn sie sich doch gern weiter von der Pharmaindustrie für Vorträge bezahlen lassen?
Auch die Medien tragen ihren Teil dazu bei, wenn sie über medizinische Themen berichten und dabei nicht einmal versuchen, die vorhandene Studienlage richtig einzuordnen, weil die Geschichte oft wichtiger zu sein scheint als die Evidenz – und weil sie zwar gern auf Presseveranstaltungen der Pharmaindustrie gehen, aber weniger, um mit den Vertretern der Arzneimittelhersteller über Probleme zu diskutieren, als um sich dem dort angebotenen kostenlosen Mittagsbüfett zu widmen. Nur wenige befassen sich so ernsthaft und ausführlich mit dem Thema wie der britische Guardian-Journalist Ben Goldacre, der kürzlich ein Buch über den Datennebel geschrieben hat, der aus Big Pharma tatsächlich „Bad Pharma“ macht.
Als Patient die Fragen stellen
Die Geschichte des Bluterskandals ist schlimm und wahr, aber es eignet sich nicht als schlechtes Beispiel, um Missstände anzuprangern. Es gab damals keine Studien, die zurückgehalten wurden. Möglich wurde der Skandal erst durch die Vorurteile und Berührungsängste. Sie führten zu einem gesellschaftlichen und politischen Verbrechen an allen Betroffenen, ob homosexuell oder heterosexuell, ob von Drogen oder Medikamenten abhängig.
Heute ist das Problem dagegen ganz systematischer Natur – und es ist politisch lösbar: durch die Pflicht, jede Studie zu dokumentieren, die gesetzliche Pflicht, alle Daten aus diesen Erhebungen und jede finanzielle Verknüpfung mit der Pharmaindustrie offenzulegen. Auch die von Fachzeitschriften. Nicht zuletzt: rigorose Strafen für Verstöße gegen eine solche Publikationspflicht.
Und es gibt Sie und mich, die Patienten, die, anstatt nur über die böse Pharmaindustrie zu schimpfen, Fragen stellen können. Dem behandelnden Arzt, ob er Geld von Arzneimittelherstellern annimmt. Dem Wissenschaftler, ob er dafür sorgt, dass die Studie, an der Sie teilnehmen würden, auch sicher veröffentlicht wird – weil Sie sonst leider nicht mitmachen. Und dem Politiker, was er denn dafür zu tun gedenkt, dass sich seine Wähler mit ihren Medikamenten in Zukunft sicherer fühlen. KATHRIN ZINKANT