Was unter der Haut ist

AUSSTELLUNG Erstmals ist das Werk von Théodore Géricault in Deutschland zu sehen. Die Frankfurter Schirn zeigt den Romantiker als Pionier des modernen Menschenbildes

Der Maler las die Berichte derer, die das Fleisch der Toten aßen. Den Elenden verlieh er einen Hauch klassischer Größe

VON CARMELA THIELE

Die Ausstellung trifft einen Nerv. Denn Tod und Krankheit sind ausgelagert aus unserer Leistungsgesellschaft. „Géricault, Bilder auf Leben und Tod“ in der Frankfurter Schirn dagegen klammert das Ende und die Gefährdung unserer Existenz nicht aus. Der Maler vertiefte sich wie kaum ein anderer in das Studium der Anatomie, interessierte sich für Erscheinungen des Wahnsinns und für die Abgründe der menschlichen Seele unter den Zumutungen von Armut und Krieg. Nach dem Ausstellungsprojekt zum Einfluss der Evolutionstheorie Darwins auf die Kunst um 1900, das 2009 in der Schirn stattfand, gelangen nun mit der Géricault-Schau Anatomie und Psychiatrie als Folie der Malerei in den Blick.

Géricault sei der eigentliche Begründer der französischen Romantik gewesen, einer Romantik, die sich einer realistischen Ästhetik bediente, sagt der Kurator der Schau und Professor für Kunstgeschichte der Universität Mainz, Gregor Wedekind. Für Géricault sei der Körper das Medium der Empfindung gewesen. Selbst wenn der Künstler für eine Studie zu seinem Hauptwerk dem „Floß der Medusa“ real vor ihm liegende Leichenteile malte, scheint er „im Toten das Lebendige“ aufzurufen. Diese Durchdringung von körperlichem und seelischem Erleben sei ein Schlüssel zu Géricaults Werk.

Unter diesem Gesichtspunkt sind auch seine berühmten Porträts von Geisteskranken zu verstehen, von denen vier der fünf heute bekannten Werke in der Frankfurter Ausstellung versammelt sind. Nur Spuren von Verwahrlosung, wirres Haar und der ungepflegte Bart, weisen auf den Zustand etwa des „Monomanen des Diebstahls“ hin. Während manche Wissenschaftler zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu belegen versuchten, dass die Physiognomie des Kopfes Hinweise auf den geistigen Zustand eines Menschen zulassen würde, grenzte der Maler die Geisteskranken mit seinen Bildern nicht aus. Géricault habe diese Leute als normale Menschen gesehen und dürfe deshalb als Pionier eines modernen Menschenbildes gelten, meint Wedekind.

Wissenschaft und Kunst

Die Namen der Dargestellten erfahren wir allerdings nicht. Also handelt es sich um Studien, die einen wissenschaftlichen Hintergrund haben könnten, genauso wie die Fotografien der Anstaltsinsassen von Henry Hering, aufgenommen um 1850. Auch sie vermerken allein die Diagnose „acute mania“ oder „acute dementia“. Nicht geklärt ist, wie es zu den 1822/23 gemalten Bildern der „Monomanen“ gekommen ist. Bekannt ist, dass Géricault selbst während einer Nervenkrise ärztlichen Rat in Anspruch genommen und in dem Arzt Étienne-Jean Georget einen Freund gefunden hatte. Aus dessen Nachlass stammen die Bilder.

Wissenschaft und Kunst rückten im 19. Jahrhundert zusammen. Begeistert vermaß man Schädel, um daraus Hinweise auf den Charakter eines Menschen ableiten zu können. Selbst der Kopf des guillotinierten Robespierre wurde als Studienobjekt in Wachs abgegossen. Künstler illustrierten Anatomie-Lehrbücher. Man wollte bis ins letzte Detail wissen, wie der Mensch funktioniert und was unter der Haut ist. Auch von Géricault sind Kohlezeichnungen zu sehen, die jede Sehne eines Fußes oder jeden Muskelstrang einer Wade genau verorten. Zunächst hatte sich der junge Mann jedoch die Grundlagen der akademischen Malerei erarbeitet. Geboren 1791 in Rouen, wuchs Théodore Géricault in Paris auf und sollte Buchhändler werden. Doch entzog er sich einer bürgerlichen Karriere und nahm heimlich Unterricht, zu nächst bei dem Pferdemaler Carle Vernet, dann bei dem Historienmaler Pierre Narcisse Guérin. Erst 1811 schrieb er sich in der École des Beaux-Arts ein und nahm bereits im folgenden Jahr am Salon teil, wo er prompt mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde.

Volljährig und mit dem Vermögen seiner früh verstorbenen Mutter ausgestattet, mietete sich Géricault ein Atelier und begeisterte sich für die Darstellung junger Offiziere im Kriegsgetümmel. Unter dem Eindruck der Niederlagen Napoleons zog der Realismus in sein Werk ein. Die Schrecken des Krieges, sie hatten nicht nur Francisco de Goya zur Entglorifizierung des Kampfes auf dem Feld von Ruhm und Ehre bewogen. Zu Beginn der Restauration 1814 trat Géricault in eine Reiterkompagnie der Nationalgarde ein. Und um das Bild des romantischen Helden komplett zu machen, sei noch erwähnt, dass er sich unglücklich in seine sechs Jahre ältere Tante Alexandrine-Modeste verliebte. Ein Sohn, der 1818 aus dieser Beziehung hervorging, wurde von Pflegeeltern aufgezogen.

In jene turbulente Lebensphase fielen die Studien zum „Floß der Medusa“, seinem monumentalen Meisterwerk, das der Louvre auch für diese ambitionierte Ausstellung nicht ausgeliehen hat. Géricault knüpfte darin an eine reale Tragödie an: Die Fregatte „Medusa“ war aufgrund der Unfähigkeit des Kapitäns 1818 auf eine Sandbank vor Westafrika aufgelaufen. Der Skandal war perfekt, als bekannt wurde, dass es zu wenige Rettungsboote gab und 150 Unglückliche auf einem nicht steuerbaren Floß sich selbst überlassen worden waren. Der Maler las die Berichte der wenigen Überlebenden, die gezwungen waren, das Fleisch der Toten zu essen. Eine Studie verrät, dass der Maler sogar erwogen hatte, die Pariser Gesellschaft mit der Tatsache des Kannibalismus zu konfrontieren.

Am Ende relativierte er den schockierenden Realismus des Sterbens, indem er den Elenden einen Hauch klassischer Größe verlieh. Géricaults Furchtlosigkeit gegenüber Tod und Vergänglichkeit scheint ausgestrahlt zu haben. Als der Künstler mit 33 Jahren infolge einer Tumorerkrankung im Sterben lag, zeichneten ihn seine Freunde im Zustand der Agonie. In ihrer Trauer vergaßen einige die akademischen Regeln und schufen Bilder, wie sie Géricault selbst vielleicht gerne noch gemalt hätte.

■ Bis 26. Januar 2014, Schirn Kunsthalle Frankfurt; Katalog (Hirmer), 39,90 Euro