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Archiv-Artikel

Leben im Krieg

Zur Lüge gehören immer zwei: Auf seinem grandios heruntergerotzten Antikriegsalbum „Living With War“ rechnet Neil Young mit George W. Bush ab

VON TOBIAS RAPP

Stolz rollt es mit weißer Schrift über schwarzem Grund: „Lookin’ For A Leader“, verkündet die Homepage von Neil Young, sei in der vergangenen Woche mehr Playlisten amerikanischer Radiosender hinzugefügt worden als jedes andere neue Stück. „Thank you US radio“ ist dem Spruchband halb ironisch, halb triumphierend hinzugefügt – dürfte es doch den meisten der mehrheitlich konservativ kontrollierten Radiostationen der USA wenig Freude bereitet haben, ein Stück in ihr Programm aufzunehmen, das die Bush-Administration unter das schwerste Feuer nimmt, dem sie aus der Popkultur bisher ausgesetzt wurde.

Aber kaum ein Radiosender dürfte auf die Dauer eine Platte ignorieren können, die zwar eigentlich erst im Juni erscheinen sollte, dann aber auf einmal als Stream auf Youngs Homepage auftauchte und in den ersten vier Tagen bereits eine Million Mal angeklickt wurde. Seit Montag ist „Living With War“ (Reprise/Warner) in den USA auf dem Markt – theoretisch wenigstens: Praktisch hat die Plattenfirma Schwierigkeiten, der Nachfrage hinterherzukommen. Der Internethype hat auch sie überrollt. Zu Recht: Es ist die beste Neil-Young-Platte seit Menschengedenken (also seit „Rust Never Sleeps“ von 1979).

Granatsplittergrau schrammelt sich Neil Youngs Gitarre durch neun der zehn Stücke („America The Beautiful“ besorgt der Chor alleine), ein bierkastengerades und grandios stumpfes Schlagzeug marschiert mittleren Tempos voran, ein mächtiger Bass hält das Ganze zusammen. Ab und zu gniedelt eine Militärkapellentrompete darüber, und ein hundertköpfiger Chor bildet den multitudischen Hallraum, in dem die american people unterstreichen, was Neil Young zu sagen hat: „Let’s Impeach The President For Lying“. Darauf kann man es reduzieren. Einfach, dreckig und groß.

Es ist eine Platte, die sich anhört wie die vorläufig letzte Rache jener Generation, die schon immer alles besser gemacht hat: protestieren wie konsumieren – tatsächlich lässt Young es sich nicht nehmen, die Schwester des Soldaten, der in „Flags Of Freedom“ in den Irak muss, den frühen Bob Dylan auf dem Kopfhörer hören zu lassen. Doch „Living With War“ ist tatsächlich jenes Protestalbum, an dem sich in den letzten Jahren viele versucht haben und das dann trotz allen Geredes von der Rückkehr des Protestsongs doch nie erschien.

Was nicht nur an der Platte selbst liegt, sondern auch an ihrer Inszenierung: Denn kaum jemand jenseits von Joan Baez dürfte die Rückkehr des Protestsongs so glaubwürdig als Rückkehr zu seinen eigenen Wurzeln verkörpern wie Neil Young. Er lässt es sich auch nicht nehmen, auf seiner Homepage darauf hinzuweisen, dass sich am 7. Mai das Massaker an der Kent State University zum 36. Mal gejährt hat: Vier Studenten starben unter den Kugeln der amerikanischen Nationalgarde, den Young mit „Ohio“ beantwortete, einem Stück, das schon wenige Tage nach den Todesschüssen in den Läden stand und sich als wütender Soundtrack der Nixon-Ära in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat. Seine persönliche Glaubwürdigkeit schweißt er so symbolisch mit der entscheidenden politischen Parallele zusammen: dass der Irakkrieg längst zu einem zweiten Vietnam geworden ist.

Young hätte nach „Ohio“ das werden können, was man so totalisierend wie falsch die „Stimme einer Generation“ nennt. Dass er einen anderen Weg gewählt hat und in mühevoller und schmerzhafter Karrierezerstörungsarbeit immer alle Positionen umgeworfen hat, die ihn in die Gefahr brachten, für irgendjemand anders zu sprechen als für sich selbst (und dabei sind viele Furcht erregend schlechte Platten herausgekommen), gibt ihm heute die Autorität und die Glaubwürdigkeit, genau dies wieder zu tun: eine Haltung zu finden, die nur seine ist, genau deshalb aber universell für alle funktioniert.

Denn was „Living With War“ von all den meisten anderen Platten unterscheidet, mit denen sich amerikanische Künstlerinnen und Künstler gegen die Bush-Regierung gewandt haben, ist nicht die Genauigkeit ihrer politischen Analyse oder die Eleganz ihres Arguments. Da kann man lange suchen. Ihre ganze grandiose Energie bezieht sie aus einer simplen Einsicht: Zur Lüge gehören immer zwei: der Lügner und der, der angelogen wird. Die Wut, die Lügen geglaubt zu haben, treibt diese Platte an. Und kaum jemandem würde man diese Wut eher abnehmen als Neil Young, der große Bauchdenker des Rock, dessen politisches Urteil ja tatsächlich einigermaßen erratisch ist. Der in den Achtzigern mit Reagan sympathisierte, um dann die erste Regierung Bush mit „Rockin’ In the Free World“ anzugreifen. Der bei der großen „America. Tribute To Heroes“-Gala zehn Tage nach den Anschlägen vom 11. September aufgetreten und dort „Imagine“ gespielt hat. Auch wenn das eine sehr würdevolle und gelungene ästhetische Geste war, die den Kitsch nicht zum Argument gerinnen ließ, spielte er dann wenig später „Let’s Roll“ ein, ein Tribut an die amerikanischen Helden, die das vierte Attentäterflugzeug zum Absturz brachten. Er hat sich auch für den „Patriot Act“ ausgesprochen in dem Glauben, dass die Amerikaner in Zeiten der Gefahr durchaus für eine Weile auf einige Rechte verzichten könnten.

Nun gibt es im zeitgenössischen Popschaffen zwei Modelle zur politischen Äußerung. Das eine könnte man das „Modell Bono Vox“ nennen. Es funktioniert darüber, seinem Publikum erfolgreich einreden zu können, als Popmusiker sei man unkorrupter Vertreter des Guten, Wahren und Schönen und dementsprechend legitimiert, politische oder zumindest gesellschaftliche Forderungen zu stellen. Von Live Aid bis zu Rock gegen rechts ist dies äußerst verbreitet. Es läuft mal besser und mal schlechter. Besser, weil des Öfteren tatsächlich Geld zusammenkommt, das dann der Verbesserung des Weltlaufs zur Verfügung gestellt werden kann. Schlechter, weil man sich in den meisten Fällen besser die Ohren zuhält.

Das andere könnte man das „Modell Green Day“ nennen, weil diese Band es mit ihrem Album „American Idiot“ am massenwirksamsten durchbuchstabiert hat. Hier wird keinerlei Nähe zur Macht gesucht, ganz im Gegenteil, es handelt von lebensstilistischer Dissidenz und der sich daraus ergebenden Ablehnung der herrschenden Politik. Die meisten Künstler, die sich in letzter Zeit gegen die Bush-Administration gewandt haben, von den Beastie Boys über die Dixie Chicks bis zu Michael Moore (der keine Musik macht, sich aber für seine Filme bei popkulturellen Strategien bedient), arbeiten so, und sie haben alle das gleiche Problem: Sie predigen zu den bereits Überzeugten. Auch mitten im Mainstream sprechen sie aus einer Position der Minderheit heraus, als Menschen, die es qua minoritäre Lebensweise besser wissen als die Mehrheit.

Neil Young macht weder das eine noch das andere. Young spricht als Universalist, man kann auch schweigende Mehrheit dazu sagen. Er hat dem Präsidenten geglaubt. Aber er ist belogen worden. Um diese Schuld abzutragen und sich der Mitverantwortung zu stellen, heißt es nun, diesen Lügen und ihren Folgen bis ins Kleinste zu folgen: sei es in den Bildern des Krieges („Shock and Awe“), in der Rhetorik der US-Administration („Flags Of Freedom“), in ihren Auswirkungen, für die Familien, die ihre Kinder in den Irak schicken („Families“ und „Living With War“). Und es heißt, Konsequenzen zu ziehen („Let’s Impeach The President“ und „Lookin’ For A Leader“. Wobei Letzteres in den Zeilen gipfelt: „Maybe it’s a black man/ or a woman after all“. Die USA müssen wirklich in Not sein, wenn Neil Young eine Frau zur Präsidentin haben will – der political correctness war er wirklich nie verdächtig. Die Zeiten des weißen und männlichen Universalismus sind wohl tatsächlich bald vorbei).

Eine solche Platte kalkuliert man nicht. Young soll begonnen haben, sie einzuspielen, als er das Foto eines Soldaten sah, der in einem Sanitätsflugzeug operiert wurde, 10.000 Meter über der Erde, auf dem Weg von Bagdad nach Frankfurt. Deshalb geht auch das beliebteste Argument, das von konservativer Seite gegen „Living With War“ vorgebracht wird, so vollkommen ins Leere: der Vorwurf des Opportunismus. Dass diese Platte nicht mutig sei, dass Young sich zwei Jahre zu spät äußere, dass er einfach nur die Begleitmusik für Bushs sinkende Umfragewerte spiele.

Die Kraft dieses Albums liegt in seiner Naivität, in ihrer betroffenen Hingerotztheit. Das ist das Terrain, wo sich Ästhetisches und Politisches treffen. Die Betroffenheit, fühlt man sich nach „Living With War“ versucht zu sagen, kann wiederkommen, wenn sie weiß, warum sie weg war.