: „Sie sind alle Ballerinen“
TANZ Diskursiv ist man beim Thema Inklusion im Tanz auf der Höhe der Zeit – nur die Praxis hinkt hinterher, meint Henrique Amoedo, der mit der Kompanie Dançando com a Diferença zu Gast beim „No Limits“-Festival ist
■ ist Sportpädagoge und Choreograf, der sich in verschiedenen Gremien für die Öffnung von Kunstprojekten für Menschen mit Behinderung einsetzt. Unter seiner künstlerischen Leitung ist aus Dançando com a Diferença („Mit einem Unterschied tanzend“), 2001 von der Regierung Madeiras als Maßnahme der Rehabilitationspädagogik ins Leben gerufen, eine international tourende Tanzkompanie entstanden.
INTERVIEW ASTRID KAMINSKI
taz: Herr Amoedo, Sie kommen mit Ihrer Gruppe von Madeira, der im Atlantischen Ozean gelegenen autonomen Provinz Portugals, die fast ausschließlich im touristischen Zusammenhang wahrgenommen wird. Können Sie die künstlerische Szene dort etwas beschreiben?
Henrique Amoedo: Die gibt es kaum. Zeitgenössischen Tanz gab es, bevor wir vor zwölf Jahren damit anfingen, überhaupt nicht.
Das Inselleben übt also keinen Einfluss auf Ihre Arbeit aus?
Es ist umgekehrt: Die Gruppe Dançando com a Diferença beeinflusst die Insel.
Aber Sie haben die Arbeit im Auftrag der madeirischen Regierung aufgenommen?
Das ist richtig. In den ersten Jahren hat die Regierung uns sehr unterstützt. Seit 2007 gibt es jedoch nur noch eine indirekte Unterstützung. Offiziell bin ich als Lehrer an einer Schule angestellt, kann meinen Unterricht aber in die Gruppe investieren. Auch unser Probenraum wird bezuschusst. Aber das meiste Geld kommt heute aus privaten Spenden und Tourneen.
Obwohl es immer mehr Gruppen gibt, die mit Performern mit Behinderungen arbeiten, sind gemischte, inklusive Gruppen, die kontinuierlich bestehen, sehr selten. Wie kam es bei Ihrem Ensemble dazu?
Zunächst aufgrund der Ausbildungssituation. Es gab weder eine Tanzausbildung für Behinderte noch für Nichtbehinderte auf Madeira. Da auch die Ausbildung für inklusive Gruppen sehr wichtig ist und nicht durch sogenannte Projekte ersetzt werden kann, bot diese Ausgangssituation eine Chance, ein gemeinsames Lernen zu beginnen.
In Ihrer Kompanie tanzen Menschen mit geistiger Behinderung zusammen mit körperlich- und Nichtbehinderten auf professionellem Niveau. Erfordert das von allen Beteiligten nicht zu viele unterschiedliche Kompetenzen?
Wer mit der Philosophie des inklusiven Tanzes arbeitet, braucht viele unterschiedliche Kompetenzen. Wir arbeiten mit Techniken nach Laban, mit Kontaktimprovisation, Body Awareness und so weiter. Je nach Behinderung gibt es verschiedene Gewichtungen. Wenn ich mich bei einer Besonderheit nicht auskenne, dann studiere ich sie, damit ich einen Ausbildungsansatz entwickeln kann.
Sie arbeiten mit international renommierten Choreografen, die aber von Ihren Trainingsmethoden wenig wissen. Ist es nicht manchmal frustrierend, immer bei null anzufangen?
Es ist schon anstrengend. Aber es ist auch bereichernd, weil die Choreografen viel ästhetische Erfahrung mitbringen. Die Begegnungen sind für beide Seiten ein Lernen. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Ohne die großen Namen, mit denen wir arbeiten, würde die Gruppe auf Madeira festsitzen. Wir würden nirgendwohin eingeladen werden.
In den letzten Jahren gibt es zunehmend Kooperationen zwischen den „Behindertentheatergruppen“ und bekannten Choreografen, von Sidi Larbi Cherkaoui bis Jérôme Bel. Das hat zu einer Änderung der Ästhetik der Kompanien und, damit verbunden, zu vielen Einladungen zu wichtigen internationalen Festivals geführt. Haben dieses öffentliche Interesse und der dadurch entstandene Diskurs die Arbeit verändert?
Das ist eine schwierige Frage. Die Ästhetik des Tanzes hat sich generell in dieser Zeit stark gewandelt. Was man in den achtziger Jahren noch Freakshow genannt hätte, ist heute normal. In den Neunzigern hat man in den USA Theater von Menschen ohne formalistische Körpersprache, wie zum Beispiel Stücke von Bill T. Jones, noch als „Victim Art“ bezeichnet, heute sind die physischen Unterschiede und das damit verbundene Denken so sehr Teil der Ästhetik geworden, dass sie sich fast schon wieder auflösen. Ja, der Diskurs hat sich also sehr verändert. Nur die Praxis, die hinkt noch hinterher. Was wir für eine Entwicklung dringend brauchen, ist die Ausbildung von Tanztrainern und Choreografen für inklusive Gruppen.
Sie zeigen in Berlin beim „No Limits“-Festival Choreografien von Clara Andermatt und Rui Horta. Welche unterschiedlichen Ansätze haben die Choreografen für ihre Arbeit gewählt?
■ Heute geht das internationale Theaterfestival No Limits in seine sechste Runde. Bis zum 17. November treten hier an verschiedenen Orten Menschen mit und ohne Behinderung auf. In diesem Jahr stehen unter anderem Regiearbeiten von Rimini Protokoll, Panaibra Canda, Rui Horta und Clara Andermatt auf dem Programm, es kommt das Blaumeier-Atelier aus Bremen, und Kroog II aus Moskau bringen gegenwärtige russische Theatergeschichte nach Berlin. Neben einem Symposium (8. 11.) steht am 13. 11. auch ein Workshop zu inklusivem Theater an. Die Eröffnung heute um 20 Uhr im HAU 2 übernimmt die inklusive Tanzkompanie Dançando com a Diferença aus Madeira. Programm: www.no-limits-festival.de
Clara Andermatt richtet bei dem Stück „Levanto os Braços como Antenas para o Céu“ den Fokus auf die Besonderheit der Gruppe, sie stellt die einzelnen Körper vor. Rui Horta legt bei „Beautiful People“ den Fokus mehr auf den Blick von außen: Wie ist das Verhältnis der Gesellschaft zu diesen Tänzern? Darüber hinaus gibt es Gemeinsamkeiten. Beide interessieren sich für eine Art Initialschock des Umgangs mit dem Anderssein. Und beide Stücke und ihre Themenstellungen sind schon mehrere Jahre alt; es handelt sich also um historische, chronistische Arbeiten im Kontext des aktuellen Geschehens.
Hinsichtlich der Bühnengarderobe gibt es keine Unterschiede zwischen den Tänzern. Alle tragen dasselbe Trikot.
Ja, manchmal muss man auch die Gemeinsamkeiten betonen, das heißt die Tatsache, dass sie alle Ballerinen sind.
Übersetzung Marcel Bugiel und Ricardo Mendes