Terror und Misere

Wie das Attentat von Nairobi mit dem Somalia-Konflikt zusammenhängt von Gerard Prunier

Am Samstag, den 21. September, drang ein Kommando der Shabaab[1]in die Westgate-Mall in der kenianischen Hauptstadt Nairobi ein. Nachdem die somalischen Angreifer wahllos in die Menge geschossen hatten, verschanzten sie sich vier Tage lang im Labyrinth der Ladengeschäfte und feuerten auf jeden, der sich ihnen näherte. Die kenianischen Behörden zeigten sich nicht nur außerstande, das Massaker zu beenden, sie waren auch unfähig, die Mitglieder des Shabaab-Kommandos zu identifizieren oder an der Flucht zu hindern und auch nur einen der Angreifer festzunehmen. Über einen Monat nach der Tat sind die genauen Umstände des Angriffs und die Zahl der Opfer immer noch ungeklärt.

Reduziert man das Geschehen in Nairobi auf eine „Aktion islamistischer Terroristen“, übersieht man zwei wichtige andere Dimensionen dieses Überfalls: Er gehört erstens in den Kontext des somalischen Bürgerkriegs, der seit 1988 andauert; und zweitens in den Kontext der politischen Krise in Kenia, die sich seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl von 2007 ständig weiter vertieft hat.

Der Zerfallsprozess in Somalia begann nicht erst 1991 mit dem Sturz des Regimes von Diktator Siad Barre, wie immer gesagt wird, sondern bereits in den 1980er Jahren mit dem Aufstand in der Nordregion Somaliland. Nach dem Sturz Barres erklärte Somaliland 1991 seine Unabhängigkeit, die aber international nie anerkannt wurde. Der 2004 beginnende Aufstieg der Shabaab ist also nur ein Symptom des immer weitergehenden Zerfalls.

Der Angriff auf die Westgate-Mall wurde auch als Racheakt interpretiert, weil kenianische Soldaten im Oktober 2011, unterstützt von der somalischen Zentralregierung,[2]Stützpunkte der Shabaab angegriffen hatten. Dabei ist die kenianische nur eine von mehreren ausländischen Armeen, die in Somalia aktiv sind – und sicherlich eine der ineffektivsten. Beteiligt sind außerdem Streitkräfte aus Uganda, Burundi und Dschibuti, im Rahmen einer Mission der Afrikanischen Union in Somalia (Amisom), die von der Afrikanischen Union (AU) und der UNO finanziert wird. Zudem sind zusätzliche Einheiten der äthiopischen Armee außerhalb des Amison-Rahmens aktiv.

Die Kenianer verfolgen durchaus eigene nationale Interessen, die nur wenig mit einer Befriedung Somalias zu tun haben. Nairobi will vor allem seine Nordostgrenze sichern, die immer wieder durch Vorstöße der shifta (somalische Banditen) verletzt wird. Kenia strebt aber zweifellos auch die Kontrolle über ein Gebiet des Indischen Ozeans an, der wahrscheinlich Öl- und ganz sicher Gasvorkommen enthält.

Bei ihrer Operation von 2011 brauchten die kenianischen Soldaten neun Monate, um 200 Kilometer auf somalisches Territorium vorzudringen –und zwar ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen. Dieses Schneckentempo erklärt sich zum Teil durch die logistischen Mängel der kenianischen Armee. Als diese im September 2012 die Hafenstadt Kismaayo einnahm, diente ihr die Miliz ihres lokalen Verbündeten Ahmed Madoobe als Vorhut. Dessen Truppe übernahm anschließend die Sicherung der gesamten Region Juba im Südwesten Somalias. Im Januar 2013 bat Madoobe die kenianische Armee, weiter nach Norden, Richtung Gedo, vorzurücken, um ihn bei der „Säuberung“ des Gebiets zu unterstützen. Aber die Kenianer drückten sich, weil sie sich gegen die Shabaab keine großen Chancen ausrechneten.

Die islamistische Gruppe hatte im Lauf des Jahres 2012 die Kontrolle über mehrere somalische Städte verloren. Das machte die Inkraftsetzung einer neuen Verfassung und die Installation einer neuen Regierung möglich. Als Hassan Sheikh Mohamud am 10. September 2012 zum Präsidenten gewählt wurde, war der Übergangsprozess unter Aufsicht der UNO abgeschlossen.

Es wäre falsch, das Westgate-Attentat als Rückkehr der islamistischen Gruppen zu ihrer früheren strategischen Macht zu interpretieren. Viel eher spricht es dafür, dass der Bürgerkrieg von Somalia sich auch auf Kenia auswirkt. Aber vor allem hat es mit einem Konflikt innerhalb der Shabaab zu tun, der letzten Sommer nach den militärischen Niederlagen gegen die Amisom-Truppen ausgebrochen ist. Im April legte sich Ahmed Godane, einer der wichtigsten Shabaab-Führer, mit mehreren seiner Subkommandanten an, einige von ihnen wurden ermordet. Godanes größter Widersacher, Hassan Dahir Aweis, eine historische Figur des somalischen Islamismus, geriet im Juni in die Hände der Zentralregierung. Die wiederum kann sich in Mogadischu nur behaupten, weil sie von den internationalen Truppen geschützt wird.

Ob das Kommando, das die Westgate-Mall attackiert hat, von Godane oder von seinen Rivalen entsandt wurde, ist schwer zu sagen. Klar ist dagegen, dass die Aktion erstens darauf angelegt war, den Somalia-Konflikt erneut in die Medien zu bringen (die dieses Thema kaum noch behandeln), und zweitens die finanzielle Unterstützung für al-Qaida wieder anzukurbeln. Das Terrornetzwerk soll knapp bei Kasse sein und muss offenbar kräftig sparen.

Die Shabaab hat handfeste politische Interessen

Sollte Ahmed Godane hinter der Aktion stecken, hätte er sich damit als neuer „Star“ auf der Bühne des internationalen Dschihadismus etabliert, auf der sich bereits al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI), al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP), die indonesische Jemaah Islamiyah, die nigerianische Boko Haram und diverse syrische Gruppierungen drängen.

Wenn die Shabaab ihre Aktivitäten ins Ausland ausweitet, heißt dies jedoch keinesfalls, dass sie in Somalia keine Basis mehr hätte. Die Organisation kontrolliert nach wie vor etwa die Hälfte des somalischen Territoriums und versucht sich mit neuen Initiativen gegen die Zentralregierung zu behaupten. Zum Beispiel, indem sie in den von ihr kontrollierten Gebieten die Infrastruktur verbessert oder Volksversammlungen und sogar Kinderfeste veranstaltet.

Der Terrorismus ist zwar ein zentrales Instrument der Shabaab, aber nicht die einzige Karte, auf die sie setzt. Ihr Haupttrumpf ist, dass sie die kleinen somalischen Clans vertritt, die sich als Opfer eines „Imperialismus“ der großen Clans empfinden. Das gilt zumal für den Hawiyé-Clan, der in der Zentralregierung klar überrepräsentiert ist.

Die Regierung muss häufig komplizierte Verträge mit der Shabaab aushandeln, die sie an anderer Stelle bekämpft, etwa in der Provinz Juba, wo die Shabaab gegen den lokalen Machthaber Ahmed Madoobe kämpft. Bei einem Selbstmordattentat der Islamisten vom 10. September (elf Tage vor dem Angriff auf die Westgate-Mall in Nairobi) wurde Madoobe verletzt und zehn seiner Bodyguards wurden getötet.

Das militärisch schwache Kenia befindet sich mitten in einer tiefen politischen Krise. Die Präsidentschaftswahlen von 2007 waren von ethnischen Spannungen geprägt, die bis zur Staatsgründung zurückreichen und während der Zeit des Regimes von Daniel Arab Moi (1978 bis 2002) stärker wurden. Die blutigen Konflikte von 2007 forderten 1 300 Menschenleben. 300 000 Kenianer suchten Zuflucht auf dem Territorium ihrer eigenen Ethnie, um sich vor Verfolgung zu retten. Viele sind noch immer nicht an ihren früheren Wohnort zurückgekehrt.

Im ganzen Land operieren Stammesmilizen, darunter die besonders brutalen der Kikuyu und der Kalendjin. Nach den Massakern von 2007 leitete der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Ermittlungen gegen eine zentrale Führungsfiguren der Kikuyu, Uhuru Kenyatta (Sohn des ersten Präsidenten Jomo Kenyatta) wie auch gegen den Kalendjin-Anführer William Ruto ein (siehe nebenstehenden Artikel).

Angesichts der drohenden Anklage vor dem IStGH bildeten die beiden ein Zweckbündnis, das dem einen das Präsidentenamt, dem anderen den Posten als Vize einbrachte. Kenyatta gewann die Präsidentschaftswahl im März 2013 im ersten Durchgang mit dem hauchdünnen Vorsprung von 8 400 Stimmen.[3]Nach diesem verdächtig knappen Ergebnis und den Anschuldigungen des IStGH standen beide Männer mit dem Rücken zur Wand. Die Tragödie in der Westgate-Mall kam für sie daher nicht ungelegen.

Am Tag der Attacke stand Ruto bereits in Den Haag vor seinen Richtern, Kenyatta war im November vorgeladen. Kaum 24 Stunden nach Verhandlungsbeginn genehmigte der IStGH die Rückkehr des Vizepräsidenten nach Nairobi, „um in einem Notfall die Ausübung seines Amtes sicherzustellen“. Seither sind Kenyatta und Ruto nicht mehr Verdächtige, die sich verteidigen müssen, sondern die Garanten internationaler Legalität gegenüber einer „terroristischen Gefahr“.

Da spielt es auch keine Rolle, dass die kenianischen Sicherheitskräfte beim Westgate-Angriff überaus fahrlässig gehandelt haben. Der Parkplatz auf dem Dach des Einkaufszentrums wurde einfach gesprengt, die herabfallenden Trümmer erschlugen zahlreiche Menschen. Soldaten plünderten Geschäfte und ergatterten jede Menge Alkohol, sodass sie betrunken blindlings um sich schossen.

Es spielt auch keine Rolle, dass die Polizei keinen Bauplan des Gebäudes hatte, als sie es stürmte, und auch nicht auf die Idee kam, die Kanalisation zu bewachen, durch die Mitglieder des Terrorkommandos entkommen konnten. Oder dass die zur Hilfe gerufene Armee bereits am ersten Tag versehentlich den Einsatzleiter der Polizei erschoss. Oder dass die beiden Leiter des Krisenstabs – Armeegeneral Julius Karangi und der Generalinspekteur der Polizei David Kimayio – sich öffentlich zankten und einander widersprechende Befehle erteilten. Und dass der Innenminister gelogen hat, als er die Verantwortung für den Brand im Einkaufszentrum den Terroristen zuschob – was ihm die Öffentlichkeit ohnehin nicht glaubte.

Beim Treffen der Afrikanischen Union in Addis Abeba am 12. Oktober erklärten Nigerias Präsident Goodluck Jonathan, Äthiopiens Außenminister Tewodros Adhanom und die meisten Repräsentanten der Mitgliedstaaten ihre bedingungslose Unterstützung für Kenyatta und Ruto. Einzig der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan erinnerte sich an die Ereignisse in Ruanda und Darfur und kritisierte die kenianischen Politiker: Sie hätten kein Wort verloren über „Gerechtigkeit für die tausenden Afrikaner, die ihr Leben verloren oder ihre Heimat verlassen mussten. Wo ist die Gerechtigkeit für diese Menschen?“

Kenyatta und Ruto sind vorerst vor der internationalen Strafverfolgung geschützt, aber die politische Misere des Landes geht weiter. Die Abgeordneten des kenianischen Parlaments, die Kenyatta in der Finanzkrise zu Mäßigung aufgerufen hatte, haben noch im September eine Anhebung ihrer Bezüge beschlossen. Mit fast 12 000 Dollar im Monat gehören sie nun zu den bestbezahlten Parlamentariern der Welt.

Fußnoten:

1Abkürzung für die somalische islamistische Bewegung Harakat al-Shabaab al-Mujahideen.

2An der Operation war auch ein französisches Transportflugzeug beteiligt: siehe Ouest France, 24. Oktober 2010.

3Für Kenyatta stimmten 50,07 Prozent der 12,3 Millionen Wähler (bei 14,4 Millionen Wahlberechtigten).

Aus dem Französischen von Jakob Horst

Gerard Prunier ist Forscher am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris und Leiter des Centre français d’études éthiopiennes in Addis Abeba.