: Ägypten, Zypern, Ostafrika?
Davis Trietsch war einer der ersten Zionisten und Vorkämpfer für einen jüdischen Staat – wo auch immer er sich gründen ließe. Heute ist er vergessen. Zum morgigen 58. Jahrestag der Ausrufung des Staates Israel ein Porträt des streitbaren Visionärs
VON KLAUS HILLENBRAND
Ist das eine Aufregung, Ende August 1904 in Basel. Gar von „Szenen titanischer Gewalt“ berichtet ein Augenzeuge: „Viele sanken ohnmächtig zusammen; einige brachen in Weinkrämpfe aus; andere zerrissen ihre Kleider, rauften sich die Haare aus.“ Soeben hat Theodor Herzl auf dem VI. Zionistenkongress einen ganz neuen Plan zur Sammlung der in der Welt verstreuten Juden vorgestellt: Nicht Palästina und Jerusalem sollen länger das Ziel sein – sondern Ostafrika! Dort kann man auf Unterstützung durch das britische Empire hoffen, anders als in Palästina, wo die Türken das Sagen haben. Der Kongress tobt. Ist nicht Jerusalem das natürliche Ziel aller Sehnsüchte? Besteht in Afrika wirklich die Chance, eine autonome jüdische Gemeinschaft zu gründen?
Die Rede, mit der Herzl den Kongress als dessen Präsident eröffnet, wird zu seiner „Thronrede“, wie sich ein Teilnehmer erinnert. Der Wiener Journalist, Begründer der Bewegung, scheint unangreifbar. Hat man nicht ihm, dem immer rührigen 43-Jährigen mit dem gewaltigen Vollbart, den Aufstieg des Zionismus überhaupt zu verdanken?
Einer aber steht auf und hält dagegen: Der Berliner Delegierte Davis Trietsch wagt es, Herzl zu widersprechen. Er mag nicht an Ostafrika glauben. Er verweist auf al-Arisch im ägyptischen Sinai, das Herzl soeben als ungeeignet für ein jüdisches Siedlungsprojekt ausgeschlossen hat. Der 35-jährige Trietsch fordert den großen Herzl direkt heraus: „Geben Sie mir und meinen Freunden einen Teil der Befugnisse, mit denen unsere jetzige Führung nichts erreicht hat, und ich werde näher zu Palästina Besseres finden als Ostafrika“, ruft er unter dem Beifall, Lärm und Widerspruch des Kongresses.
Trietsch hat keine Chance. Herzl selbst übernimmt es, dessen Rede nach Strich und Faden zu zerpflücken. Er zeiht Trietschs Worte ins Lächerliche. Er erinnert das Auditorium an Trietschs fehlgeschlagene Kolonialisierungsbemühungen auf Zypern. Herzl, wohl vorbereitet, zaubert das Protokoll eines vermeintlichen Opfers von Trietschs ach so amateurhaften Versuchen zur Hilfe für die osteuropäischen Juden hervor, den Bericht eines Mannes, der nun bettelarm mit sechs Kindern in Rumänien gestrandet ist. Andere Delegierte eilen Herzl zu Hilfe, niemand unterstützt Trietsch. Um zwanzig nach acht Uhr abends ist die stürmische Sitzung beendet.
Theodor Herzl kennt fast jeder. Wer aber war Davis Trietsch?
Einhundert Jahre später: Die Idee eines jüdischen Ostafrika ist längst vergessen. Herzls Gebeine liegen hoch oben auf einem Berg vor Jerusalem begraben, der seinen Namen trägt. In Jerusalems jüdischer Neustadt herrscht der übliche Morgenstau. Die Suche nach Davis Trietsch führt dorthin, wo der Staat Israel die Dokumente seiner Vordenker und Gründer verwahrt. Das Zionistische Zentralarchiv ist von außen ein unscheinbares, an einem Hang gelegenes, flaches Betongebäude. Doch nach hinten hinaus sinken sechs Stockwerke den Hügel hinunter.
Die Mappen mit der an Herzl gerichteten Korrespondenz sprechen eine deutliche Sprache. „An den begeisterten Kämpfer für jüdische Freiheit, Herrn Dr. Herzl“, ist ein Brief überschrieben. „Die um die festtafel versammelte ahavation sendet dem geliebten führer den ausdruck tiefster verehrung und wuensche fuer das gedeihe der grossen sache“, heißt es in einem Telegramm an Theodor Herzl, Wien, Türkenstraße 9. Besonders aus Osteuropa, wo die verarmten Juden von Arbeitsverboten drangsaliert werden und durch Pogrome in ihrer Existenz bedroht sind, kommt begeisterte Zustimmung. Herzl und seine Idee, dass die Juden nicht länger bestrebt sein sollten, sich den Völkern anzupassen, sondern dass sie selbst „ein Volk, ein Volk“ darstellten – das ist ein neuer Hoffnungsquell für die vielen Unterdrückten in Osteuropa. Im Westen findet der Zionismus dagegen kaum Unterstützung.
Auch Davis Trietschs Papiere haben im Jerusalemer Archiv einen angemessenen Platz gefunden. Es ist ein umfangreiches Konvolut: Notizen in gestochen scharfer Handschrift, Entwürfe für Broschüren und Reden, ausgeschnittene Statistiken, Buchmanuskripte und Schriftwechsel. Trietschs Lebensinhalt war offenbar sein rastloser Einsatz für den Zionismus. Mit Vorträgen reiste er quer durch Deutschland, besuchte Palästina und dessen Nachbarländer, schrieb Broschüre um Broschüre. Aber warum gab es 1904 in Basel den großen Krach mit Herzl, hatte Trietsch doch zwei Jahre zuvor noch vertrauensvoll „an den sehr geehrten Herrn Doktor“ in Wien geschrieben? In welchem Zusammenhang stehen die Briefbögen eines „Verlags für Kriegsliteratur“ von 1915 oder Trietschs Bitte an das deutsche Oberkommando um „großzügige Förderung einer jüdischen Ansiedlung im Orient“? Und wieso, um Himmels willen, beschäftigt sich der Mann mitten im Ersten Weltkrieg mit Hühnern und notiert akribisch „Eierbedarf zwei bis drei per Tag und Person“?
Im Jerusalemer Archiv finden sich einige Antworten zu Davis Trietsch – doch noch mehr neue Fragen. Die Suche nach Erklärungen führt zu Archiven in Berlin und New York, nach Tel Aviv und Naharija in Israel, nach Potsdam und Dresden, ins Hamburger Auswandererbüro, zu Antiquariaten in Jerusalem, Stuttgart und Stockholm.
Denn Davis Trietsch, einer der Vorkämpfer für Israel, das morgen seinen 58. Geburtstag feiert, ist auch im jüdischen Staat längst vergessen. Fast scheint es, als habe er selbst alle Spuren seines Lebens sorgsam getilgt, aber auch, als würde die Forschung nur ein begrenztes Interesse an einem Mann aufbringen, der vor allem durch seine scharfe Gegnerschaft zu Theodor Herzl aufgefallen ist.
Von Herzl erfährt der 1870 in Dresden geborene Trietsch zum ersten Mal in New York, wohin er im Juli 1893 ausgewandert war. Später wird es in Würdigungen heißen, er habe dort „die jüdischen Wanderungsbewegungen studiert“. Tatsächlich, das belegen Hafenpapiere, schlägt sich Trietsch in den Vereinigten Staaten als Schildermaler durch. Als Kind war Trietsch in einem Berliner Waisenhaus aufgewachsen. Der Vater, ein Musiker, hatte die Familie verlassen, die Mutter war früh gestorben. In Amerika ist Trietsch ein Auswanderer wie Millionen andere, darunter hunderttausende Juden aus dem Osten Europas, die in der Neuen Welt ihr Glück suchen.
1896 veröffentlicht Herzl sein Buch „Der Judenstaat“. Darin heißt es: „Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns, den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern werden wir als Fremdlinge angesehen.“ Es ist die Initialzündung für den modernen Zionismus. Herzl postuliert, dass der Antisemitismus unausrottbar sei und die Juden deshalb – wie jedes andere Volk – „eines unseren gerechten Volksbedürfnissen genügenden Stückes der Erdoberfläche“ bedürften.
Der allein stehende Schildermaler Davis Trietsch liest in New York von Herzl und ist fasziniert. Er hat das Elend der Ostjuden gesehen, die in der Lower East Side in unglaublicher Enge zwölf, sechzehn Stunden täglich schuften müssen, um irgendwie zu überleben – und das ist bereits ein Riesenfortschritt gegenüber den Verhältnissen in Russland, wo der Mob und der Zar die Menschen drangsalieren und ermorden. Trietsch beschließt, sich die Sache des Zionismus näher anzuschauen. Im Sommer 1897 ist er einer von vier US-Delegierten beim ersten Kongress der Zionisten in Basel. Hier werden die Organisationsstatuten der jungen Bewegung beschlossen. In Paragraf eins heißt es: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“
Zurück in den USA, verfolgt Trietsch konsequent eine Idee: Irgendwo hat er gelesen, dass auf der Insel Zypern viel Raum für Immigranten sei. Warum also nicht dort, unter der Herrschaft der britischen Krone und ganz nahe an Palästina, die „jüdische Heimstätte“ begründen, statt – wie Herzl es propagiert – auf eine unsichere Genehmigung des Sultans in Konstantinopel für Jerusalem zu warten? Ist Palästina nicht viel zu klein für die Judenheit? Muss man nicht auch die Nachbarländer Syrien und Ägypten für die Zukunft berücksichtigen? Er schreibt an Herzl, der sich für den „interessanten Vorschlag“ bedankt, aber darauf hinweist, dass „wir thatsächlich bessere Aussichten haben“.
Denn Herzl verhandelt inzwischen mit dem Sultan. Ihm schwebt keineswegs eine langsame Einwanderung vor; Herzl will generalstabsmäßig vorgehen: Zuerst soll ein Vertrag, die „Charter“, geschlossen werden, der der jüdischen Kolonie eine innere kulturelle Autonomie ermöglichst. Erst danach sieht er die Einwanderung vor, dann aber in großem Maßstab – zu hunderttausenden und bestens organisiert sollen die Juden nach Palästina kommen.
Doch Herzl beschleichen Zweifel. Die Verhandlungen ziehen sich hin. Am 1. Juli 1898 notiert er in sein Tagebuch: „Die armen Massen brauchen sofortige Hilfe, und die Türkei ist noch nicht so verloren, daß sie auf unsere Wünsche einginge. Wir können vielleicht Cypern von England verlangen …“ Trietschs Idee ist bei Herzl angekommen. Doch beide vereinbaren, das für streng religiöse Juden so heikle Thema – schließlich ist Jerusalem das Ziel ihrer Sehnsüchte – vorläufig nicht öffentlich zu machen.
Erst auf dem III. Zionistenkongress im August 1899 spricht Trietsch seine Idee eines „größeren Palästina“ an – und kann noch nicht einmal seinen Satz beenden, so wütend ist der Proteststurm der Delegierten. Nach dieser empfindlichen Niederlage kehrt der Schildermaler nicht mehr nach Amerika zurück. Er zieht nach Berlin und beginnt eine Karriere als zionistischer Schriftsteller. Zugleich will Trietsch ganz praktisch beweisen, dass er Recht hat. Er beteiligt sich an der Gründung eines Komitees, reist erstmals nach Zypern und Palästina, sucht in London Unterstützung. Er kommt nach Rumänien, um sich vor Ort über die Zustände bei den arbeitslosen jüdischen Bergleuten zu informieren.
Das „größere Palästina“ wird für Trietsch zu einer fixen Idee, die sein ganzes Leben durchzieht. Er lebt nicht streng religiös, zündet am Sabbatabend keine Lichter an. Warum also unbedingt Jerusalem? Anders als Herzl, dem ein jüdisches Gemeinwesen vorschwebt und der nicht viel von einer vorhergehenden unorganisierten Einwanderung hält, will Trietsch den verfolgten Juden Osteuropas jetzt und sofort helfen: Er ist, im Gegensatz zu Herzl mit seiner „Charter-Politik“, ein „praktischer Zionist“. Jüdische Autonomie ist ihm nicht so wichtig, Es geht ihm um Menschenleben, die er retten will. Ob Palästina, der Sinai oder Kleinasien: der Ort der Rettung ist fast nebensächlich. 1934, als Trietsch selbst in Palästina wohnt, wirft er den führenden Zionisten vor, sie wollten die vor den Nazis flüchtenden deutschen Juden in Argentinien ansiedeln, statt sie nach Zypern zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt ist Trietsch längst politisch isoliert, hat kaum mehr eine Stimme unter den Zionisten. Und sein Vorwurf ist haltlos.
Das Zypern-Projekt im Jahr 1900 wird für Trietsch zum Desaster. Eine kleine Gruppe rumänischer Juden ist unter seiner Leitung kaum auf der Insel gelandet, da strebt die Gemeinschaft schon wieder nach Hause. „Sie klagten, sie könnten das dortige Brot nicht essen“, erinnert sich Trietsch drei Jahre später in einem selbstkritischen Bericht. „Dann klagten sie über die kleinen Fliegen. Sie beschwerten sich, daß sie nicht alle Tage Fleisch haben könnten. Sie schienen erstaunt zu sein, ihre Familien nicht plötzlich in Cypern vorzufinden.“ Die Luft sei zu warm, die Bezahlung zu niedrig und die Arbeit zu schwer. Trietsch bricht das Experiment ab. Die offenbar völlig unvorbereiteten rumänischen Arbeiter kehren in ihre Heimat zurück. Noch Jahrzehnte später werden ihn seine Gegner genüsslich an sein Scheitern erinnern.
Es sind wilde Zeiten in der zionistischen Bewegung nach der Jahrhundertwende. 1901 gründet der russische Student Chaim Weizmann, der 1948 den Staat Israel ausrufen und dessen erster Staatspräsident werden wird, eine „demokratische Fraktion“. Die Gruppe wendet sich gegen den Alleinvertretungsanspruch Herzls und verlangt eine Rückbesinnung auf die jüdische Kultur. Die negative Definition des Zionismus als Reaktion auf den Antisemitismus reicht der jüngeren Generation nicht aus, sie will dem jüdischen Establishment, das auf Kongressen auf einem Frackzwang besteht, zeigen, dass Judentum mehr bedeutet.
Davis Trietsch, der Mann aus ärmsten Verhältnissen, ist von Beginn an dabei. Er hat inzwischen einige publizistische Erfahrungen sammeln können: Seit Beginn des neuen Jahrhunderts fungiert er als Herausgeber der zionistischen Zeitschrift Ost und West. So verwundert es nicht, dass sich im selben Jahr der später so berühmte Religionsphilosoph Martin Buber Hilfe suchend an Trietsch wendet: Im Oktober 1902 gründen Buber, Trietsch, der Jugendstilkünstler Ephraim Moses Lilien und Berthold Feiwel den „Jüdischen Verlag“. Das praktisch ohne Geld gestartete anspruchsvolle Unternehmen verschreibt sich der Propagierung jüdischer Kultur – und hat bis heute, trotz des Verbots durch die Nazis 1938, unter dem Dach des Suhrkamp Verlags überlebt. Trietsch wird erster Geschäftsführer des Unternehmens.
Trietschs Verhältnis zu Herzl hat sich inzwischen deutlich abgekühlt. Auf dem V. Zionistenkongress wagt der junge Schriftsteller erstmals die direkte Konfrontation: Mit der Begründung, Palästina sei für die Judenheit zu klein, verlangt er, nicht länger nur dort, sondern auch in den Nachbarländern eine „jüdische Heimstatt“ zu suchen. Das aber kommt einem Sakrileg gleich. Herzl selbst übernimmt es, Trietschs Begehren abzubürsten. Der wehrt sich in seiner neuen Zeitschrift Palästina: „Die zionistische Bewegung ist hervorgerufen durch die Judennot. Die Judennot lässt sich nicht behandeln wie ein Schachspiel mit hölzernen Figuren, mit denen es sich in 50 Jahren noch gerade so wird spielen lassen. Wir müssen dem Volke, das heute leidet, zu helfen suchen. Es geht uns zuerst um das Volk – und dann erst um das Land.“
Dabei steht Trietsch Herzl näher, als er selbst wissen kann. Denn auch der Wiener Zionistenführer sieht sich angesichts der gescheiterten Verhandlungen mit dem türkischen Sultan nach Alternativen um. In London lotet Herzl Siedlungsmöglichkeiten in den britischen Besitztümern Ägypten und Zypern aus – und erhält für Letzteres eine eindeutige Absage. Aber nur seinem Tagebuch vertraut Herzl die Antwort von Kolonialminister Joseph Chamberlain an: „Was aber Cypern belange, so sei die Sache so, daß dort Griechen und Mohammedaner leben, und die könne er neuen Einwanderern zuliebe nicht verdrängen.“ Trietsch ahnt davon nichts.
Doch es sind wohl nicht nur politische Differenzen, die ihn in der zionistischen Bewegung mehr und mehr isolieren. Dazu kommen gewisse Charaktereigenschaften des Dresdners: „Herr Trietsch ist ein sehr fähiger Mann, den ich sehr gerne verwenden möchte“, schreibt Herzl 1903 in einem Brief an einen Mitstreiter – und klagt: „Sein großer Fehler ist aber seine geradezu principielle Disciplinlosigkeit.“ In Deutschland ärgern sich die Mitinhaber des Jüdischen Verlags, dass sich Trietsch kaum noch um das Unternehmen kümmert: „Unser verehrter Geschäftsführer ist in Cypern oder irgendwo. Er ist fort ohne Sitzung einzuberufen und einen ordentlichen Vertreter zu lassen“, schreibt Lilien 1904 verzweifelt an Feiwel. Rechnungen bleiben unbezahlt. Jahre später, Trietsch ist längst aus dem Verlag ausgeschieden, meldet er geradezu unverschämt offen Ansprüche auf die Verlagsführung an: „Für eine Geschäftsführung würde ich ein Minimum an festen Bezügen, dagegen eine hohe Beteiligung am Reingewinn beanspruchen“, schreibt Trietsch unaufgefordert an die neuen Besitzer.
Ein Diplomat ist Davis Trietsch, der mit seinem „Palästina-Handbuch“ 1907 einen Bestseller landet, jedenfalls nicht. Sieben Jahre nach dem Tod Theodor Herzls, der am 3. Juli 1904 überraschend mit nur 44 Jahren gestorben war, spricht er vor den Delegierten des X. Zionistenkongresses über den hoch verehrten Gründer der Bewegung als „Ihr großer Führer“, was prompt Proteststürme auslöst: „Ich muß ihn (Trietsch) ersuchen, das, was uns allen das Allerheiligste ist, nicht zu berühren“, greift die Tagungsleitung ein.
1906 reist Trietsch für längere Zeit nach Palästina. Hier heiratet der inzwischen 36-Jährige Emma Tomaschewsky. Seine sechs Jahr jüngere Frau stammt aus einer ostpreußischen jüdischen Familie und ist selbst in der zionistischen Bewegung aktiv. Arthur Ruppin, der die Kolonisation des Landes koordinieren soll, erinnert sich in seinen Tagebüchern an seine Besuche im Haus des Ehepaares in Jaffa: „Trietsch würzte die Unterhaltung mit kritischen Bemerkungen über seine Mitmenschen und mit der Erklärung seiner Pläne, die er immer in Hülle und Fülle hatte.“ Zu dieser Zeit steht die jüdische Einwanderung nach Palästina noch in ihren Anfängen. Doch Trietschs „praktischer Zionismus“ hat in der Bewegung inzwischen die Oberhand gewonnen. Man will nicht unendlich lange auf einen Vertrag mit der Türkei warten – die Besiedlung soll jetzt beginnen. Der Jüdische Nationalfonds wird gegründet, um Boden von arabischen Großgrundbesitzern zu erwerben. Ein Staat schwebt den Zionisten in Palästina immer noch nicht vor, wohl aber die Bildung einer eigenen jüdischen Mehrheit in gewissen Landesteilen. Russische Einwanderer gründen den ersten Kibbuz.
1908 verlässt das Ehepaar Trietsch Palästina: Emma erwartet ein Kind, und die medizinische Versorgung lässt in der türkischen Provinz arg zu wünschen übrig. In Berlin wird im selben Jahr ihr Sohn geboren. Bis 1914 folgen ein weiterer Junge und drei Mädchen. Man wohnt bürgerlich in sechs Zimmern in Berlin-Wilmersdorf, Nürnberger Platz 5, dritter Stock. „Unser Vater, Pa, war häufig auf Reisen für seine Vorträge“, schreibt die 1911 geborene Hannah in ihren vom Leo Baeck Institut archivierten Erinnerungen: „Wir nannten ihn etwas traurig den ‚Reiseonkel‘, denn wir waren so viel glücklicher, wenn er zu Hause war.“
Davis Trietsch verfasst in seinen mit Büchern voll gestopften zwei Arbeitszimmern Schriften über Schriften: über Palästina, Zypern, die Türkei, den Islam. Er wird zu einem der ersten Befürworter der Gartenstadt in Palästina, dieser Antithese zu den engen und verschmutzten jüdischen Ghettos in Osteuropa. Seine Vorträge führen ihn auch nach Prag. Im Mai 1912 notiert Franz Kafka in sein Tagebuch: „In den letzten Tagen ausgezeichneter Vortrag von Davis Trietsch über Kolonisation in Palästina.“ In Deutschland bleibt der Zionismus eine winzige, von vielen belächelte Bewegung. Die deutschen Juden fühlen deutsch, können mit dem Auswanderungsprojekt nichts anfangen: Was sollten sie, die endlich die Gleichberechtigung erhalten haben, in einer sonnenverbrannten Halbwüste?
Deutsch fühlt auch Davis Trietsch. Schon vor Ausbruch des Krieges hat Trietsch sich für ein deutsch-türkisches Bündnis stark gemacht. „Bei der außerordentlichen Ähnlichkeit in den Charaktereigenschaften gerade der Türken und der Deutschen und bei der Bewunderung, mit der unsere türkischen Freunde sich gewöhnt haben zu den Errungenschaften Deutschlands aufzublicken, könnte man jeder Art von Bündnis von vornherein eine lange Dauer prophezeien“, schreibt er 1912.
Ganz selbstverständlich ergreift Trietsch im Ersten Weltkrieg Partei für sein Vaterland – wie fast alle Deutschen, ob nun Christen oder Juden, ob konservativ oder sozialdemokratisch. Eines seiner Werke trägt den Titel „Deutschland. Tatsachen und Ziffern. Eine statistische Herzstärkung“. Die Seiten und der Umschlag sind arg vergilbt. „Sendet dieses Buch ins Feld!“, heißt es reißerisch auf der Bauchbinde des schmalen, 1915 erschienenen Bandes. Mit Zahlen und Grafiken will Trietsch beweisen, dass die Feinde keine Chance gegen „Deutschlands straffere Zucht und Ordnung und das höhere Pflichtgefühl seiner Bewohner“ haben. Broschüren wie diese schreibt Trietsch quasi am Fließband. Er arbeitet für die Koloniale Rundschau, die Wirtschaftszeitung der Zentralmächte, ist Mitglied im „Deutschen Levante-Verein zur Förderung der deutschen Wirtschaftsinteressen im Orient“. Eine von ihm selbst gefertigte Liste nennt 31 Aufsätze, die er zum Wohle des deutschen Imperialismus unter Kaiser Wilhelm II. erstellt hat.
Zugleich bemüht er sich, das Oberkommando von den günstigen Folgen einer Unterstützung des Zionismus zu überzeugen: Die Auswanderung der Ostjuden nach Großbritannien, in die USA und nach Frankreich sei eine „unleugbare Stärkung der Feinde Deutschlands“: Daher bittet er in einem Brief von 1917 um „großzügige Förderung einer jüdischen Ansiedlung im Orient“.
Trotz aller Deutschtümelei erkennt Trietsch sofort die Bedeutung der Balfour-Deklaration von 1917, in der Großbritannien den Zionisten eine „jüdische Heimstätte“ verspricht. Jetzt sei endlich die Möglichkeit zur Bildung einer jüdischen Mehrheit gegeben, äußert er sich in einem Manuskript euphorisch. Zugleich arbeitet er weiter an seinen Zypern-Plänen. Ein Jahr nach Kriegsende informiert die britische Botschaft in Prag die Londoner Zentrale über Trietschs Vorschlag einer Ansiedlung von Juden. 1920 jedoch lehnt das Kolonialbüro die Idee ab: „Die Antwort lautet natürlich nein. Herr Trietsch hat nichts verstanden. Kein Deutscher braucht sich an uns zu wenden, ob er nun Jude ist oder nicht“, lautet ein internes Memo. Damit ist Trietschs Plan endgültig gescheitert.
Palästina dagegen wird nach dem Ersten Weltkrieg dem Völkerbund unterstellt und als Mandatsgebiet von Großbritannien verwaltet. Die Möglichkeiten zur Einwanderung sind immer noch schlecht, aber zumindest günstiger als zuvor. Auch die Familie Trietsch bedenkt in Berlin die Emigration ins Gelobte Land. „Viele Male war unsere Familie kurz vor der Abreise“, erinnert sich Tochter Hannah. „Ein Teil der Möbel war für den Transport zusammenlegbar angefertigt worden.“ Doch immer wieder kommt etwas dazwischen.
Der stets umtriebige Davis Trietsch kann jetzt, nach der Akzeptanz seiner Vorstellung einer groß geförderten Einwanderung nach Palästina, einen weiteren Erfolg verzeichnen: Die Gartenstadt wird populär. Schon 1905 hatte er das städtebauliche Konzept einer lockeren, grünen Bebauung für die Kolonisation Palästinas mit kleinen Nutzgärten für die Bewohner empfohlen. Tatsächlich beschließt der XII. Zionistenkongress in Basel 1922 die Unterstützung der Gartenstadt und gründet ein „Gartenstadtressort“. Der aus Deutschland stammende Architekt Richard Kauffmann macht sich daran, die Pläne in die Realität umzusetzen. Trietsch, inzwischen selbst über fünfzig Jahre alt, will mit dieser Art der Besiedlung Palästina auch für ältere Menschen attraktiver machen; vom zionistischen Modell des jungen, muskulösen Pioniers und Bauern hält er nichts.
Doch für ein besseres Verhältnis zur zionistischen Leitung in Deutschland sorgt das nicht. Denn Trietsch beharrt zugleich darauf, dass die Emigration nach Palästina in noch viel größeren Dimensionen vonstatten gehen solle. Er stellt komplizierte Berechnungen an, nach denen Transport und Ansiedlung viel billiger machbar seien als bisher praktiziert. Er verwirft die einseitige Auslegung der Landwirtschaft auf die Produktion von Orangen und fordert eine Industrialisierung des Landes. Er wirft dem Jüdischen Nationalfonds vor, das Geld zu verschwenden. Seine Pläne werden verlacht. Gegenüber dem längst verstorbenen Theodor Herzl bleibt Trietsch unversöhnlich: „Ich bin ein Herzlscher Zionist, nur schade, daß Herzl keiner war“, schreibt er und beklagt, dass Herzl praktische Schritte für eine Auswanderung verhindert habe. Solche Wahrheiten verschaffen ihm keine neuen Freunde.
Noch immer schreibt Trietsch viel, doch der Ausstoß an Büchern und Broschüren verringert sich. Mit der Inflation verliert die Familie ihre Ersparnisse. „Es brach eine schwere Zeit an“, schreibt die Tochter. „Keine Reisen mehr in den Ferien und auch kein Kindermädchen mehr.“ Sie erinnert sich, wie sie einmal, als der Vater zwei Gäste zu Besuch hatte, erst dem einen und dann dem anderen ein Glas Wasser brachte – „weil wir nur noch ein einziges Wasserglas hatten“.
Wie selbstverständlich wachsen die Kinder mit der zionistischen Jugendbewegung auf, werden Mitglieder beim jüdischen Sportverein „Blau-Weiß“, bereiten sich auf eine Zukunft in Palästina vor. Im März 1931 wandert als Erste Tochter Hannah aus, gerade 20 Jahre alt geworden. Die Fahrt in Richtung Triest beginnt am Anhalter Bahnhof in Berlin. Zwei Jahre vor Beginn von Hitlers Terrorregime sind die Zionisten immer noch eine kleine, exotische Minderheit unter Deutschlands Juden.
1932 geht Davis Trietsch selbst nach Palästina, zusammen mit Tochter Rachel. Er begleitet ein deutsch-jüdisches Ehepaar, das seinen Expertenrat für eine mögliche Übersiedlung sucht. „Probereisen“ nach Palästina, wie man es damals nannte, waren damals nicht ungewöhnlich. Man unternimmt ausgedehnte Reisen per Taxi durch das Land. Anfang 1933 lebt Trietsch in Tel Aviv. Im Februar erreicht Sohn Manuel das Land. Der älteste Sohn, Alfred-Benjamin, war bereits 1917 an Diphtherie gestorben. Ehefrau Emma stirbt am 22. April 1933 nach einer Operation im Jüdischen Krankenhaus Berlin-Wedding. Danach kommt auch das letzte Trietsch-Kind, Judith, nach Palästina. Die Familie ist vor den Nazis gerettet.
Nun kann Davis Trietsch seine Vorstellungen auch praktisch anwenden. Denn mit der Machtübernahme durch die Nazis in Deutschland kommen Menschen ins Land, die so gar nicht zum zionistischen Siedlungsprojekt passen mögen, an die Trietsch jedoch schon viel früher gedacht hat: Ältere, Gebildete, die von Landwirtschaft keine Ahnung haben und die nicht mehr so einfach umlernen können. In Naharija entsteht für die Jeckes, wie die deutschen Einwanderer genannt werden, eine neue Siedlung nach den Vorstellungen der Gartenstadt. Auch in Ramoth Haschawim vor den Toren Tel Avivs werden einige seiner Ideen verwirklicht. Dort entsteht eine Gartensiedlung mit zentralem Versammlungsraum.
Im Ersten Weltkrieg schon hatte Trietsch Überlegungen angestellt, wie sich mit der Eierproduktion auch ältere Einwanderer eine neue Existenz schaffen könnten: „Eierbedarf zwei bis drei per Tag und Person“, lautet seine Notiz. Ramoth Haschawim mit seinen anfangs 91 Einwohnern wird das Exempel dafür, dass es funktioniert: Die ausschließlich älteren Flüchtlinge aus Deutschland erhalten Hühnerställe an ihren Häusern. Der 24. April 1934 geht in die Annalen der kleinen Siedlung ein: Das erste Ei ist gelegt. Eine Broschüre hält das Ereignis fest: „Die Siedlerversammlung beschloss: ‚das Ei hart kochen zu lassen und auszustellen‘ – was auch geschah.“
Am 31. Januar 1935 stirbt Davis Trietsch im Alter von 65 Jahren nach einem Herzanfall. Er wird bei Tel Aviv begraben. Arthur Ruppin, der zionistische Siedlungsbeauftragte, der von Trietsch immer wieder heftig kritisiert worden war, schreibt in seinem Nachruf: „Es ist unsere Ehrenpflicht, in der Geschichte des Palästina-Aufbaues mit Achtung und Sympathie des Mannes zu gedenken, der der Verkünder von Ideen gewesen ist, für die die Zeit erst nach seinem Tode reif wurde.“
Auch wenn Trietsch in Israel vergessen ist – die Umsetzung seiner politischen Vorstellungen ist im Alltag unübersehbar. Nur die von Trietsch früh geforderte massive Einwanderung hat den jüdischen Staat Wirklichkeit werden lassen, die von ihm vehement verlangte Industrialisierung ist längst vollzogen. Viele Kibbuzim entstanden nach dem Modell der Gartenstadt. Seine Ideen halfen bei der Integration der deutschen Juden. Nur: Hühner gibt es keine mehr in Ramoth Haschawim.
KLAUS HILLENBRAND, 48, ist Chef vom Dienst bei der taz. Der Autor bedankt sich für die vielfältige Hilfe, ohne die der Text nicht hätte entstehen können: beim Central Zionist Archive, Jerusalem, beim Leo Baeck Institute, New York, beim Centrum Judaicum und der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde, Berlin, bei Anatol Schenker, Basel, und ganz besonders bei Ines Sonder vom Moses-Mendelssohn-Zentrum, Potsdam