: Die Grenze soll dicht werden
TÜRKEI Die Regierung in Ankara will sich vom Nachbarland Syrien abschotten. Die Kurden befürchten, dass dann die Lebensmittelhilfe für die andere Seite unmöglich wird
SERTAC BUCAK
AUS NUSEYBIN UND DIYARBAKIR JÜRGEN GOTTSCHLICH
Die Spannung in der Stadt Nuseybin ist spürbar. Nahezu alle Geschäfte sind geschlossen, es gibt kaum Verkehr. An den Straßenecken haben sich größere Gruppen versammelt, man sieht fast nur Männer. Eine Hundertschaft von Mitgliedern der Sonderkommandos, Wasserwerfer und gepanzerte Überfallwagen haben sich aus den Straßen zurückgezogen und sich stattdessen an einem Platz am Rande des Zentrums gesammelt.
Nur der Ort, der Anlass für die Spannung ist, liegt verlassen in der Herbstsonne. Der Grenzübergang von der türkisch-kurdischen Stadt Nuseybin in die gegenüberliegende syrisch-kurdische Stadt Qamischli ist menschenleer, aber offen. Es gibt keinen Zoll, keine Gendarmerie und kein Militär. Aber auch niemanden, der den Übergang passiert. Auf die Frage, was los sei, zuckt einer der Männer, die an einer Ecke herumstehen, die Achseln: „Die PKK hat gesagt, wir sollten die Läden schließen.“
Erst in einem Gespräch mit einem Vertreter der kurdischen BDP klärt sich die Situation. Die türkische Regierung hatte am Vortag angekündigt, demnächst mit dem Bau eines neuen Zauns zwischen den grenznahen kurdischen Orten auf türkischem und syrischem Gebiet zu beginnen. Offiziell wird dies damit begründet, dass Schmuggler daran gehindert werden sollen, die Grenze zu passieren. Selahattin Demirtas, einer der beiden Vorsitzenden der BDP, kann über diese Begründung nur den Kopf schütteln. „Was gibt es denn da zu schmuggeln?“, fragt er bei einem Gespräch wenige Tage später in Istanbul. „Unsere Leute bringen nur ihren Verwandten auf der syrischen Seite der Grenze Lebensmittel und Medikamente, weil die Kurden in Syrien sich kaum noch versorgen können.“
Der Grund, so Demirtas, sei, dass der türkische Geheimdienst den Islamisten in Syrien Waffen und anderen Nachschub schicke, „damit sie die Kurden bekämpfen können. Unsere Leute sind von Al-Qaida-Islamisten eingekesselt.“ Mit einem Zaun solle verhindert werden, dass die Kurden aus der Türkei sie mit Lebensmitteln unterstützen. „Die türkische Regierung will die Kurden mit Hilfe von al-Qaida aushungern“, sagt Demirtas. „Dagegen werden wir protestieren.“ Inzwischen sind die Bürgermeisterin von Nuseybin und die gewählten BDP-Mitglieder in Mardin in einen Hungerstreik getreten. Für Donnerstag waren Demonstrationen geplant.
Der kurdische Menschenrechtsverein in Urfa, der nächstgelegenen Großstadt zur Grenze, bestätigt die Angaben von Demirtas. Cemal Babaoglu, der Vorsitzende des Vereins, ist ebenfalls empört, dass die türkische Regierung Waffen an al-Qaida liefert. „Wir haben konkrete Berichte über Waffenlieferungen von Freunden von uns aus Ceylanpinar“, sagt Babaoglu. „Wir haben selbst vor Ort recherchiert und mit Leuten geredet, die gesehen haben, wie Transporte über die Grenze geleitet wurden“.
Ceylanpinar und Akcakale sind die beiden nächstgelegenen Grenzübergänge von Urfa aus, Nuseybin liegt etwas weiter östlich. Die jeweils auf der syrischen Seite der Grenze lebenden Kurden in Ras al-Ain und Tell Abyad sind in den letzten Wochen von Einheiten der Nusra-Front oder dem „Islamischen Staat in Irak und Syrien“ (ISIS) massiv angegriffen worden. „Die können das nur, weil sie vom türkischen Geheimdienst unterstützt werden“, ist Babaoglu überzeugt.
So sehr das die Lage der Kurden in Syrien erschwert, so ruhig ist es in den kurdischen Gebieten in der Türkei. Übergriffe auf Kurden in Urfa und Umgebung gebe es nicht, berichten die Mitglieder des Menschenrechtsvereins der Stadt übereinstimmend.
Diese positive Stimmung zeigt sich auch in anderen kurdischen Städten wie Mardin, Batman und vor allem in Diyarbakir, der Hauptstadt der kurdischen Region. Seit die PKK im Zuge von Friedensgesprächen mit der Regierung im März dieses Jahres einen Waffenstillstand verkündet hat, ist das Leben in die Städte zurückgekehrt. Wo früher nach Einbruch der Dunkelheit jeder, der irgend konnte, zu Hause blieb, sind jetzt die Straßen auch am Abend belebt.
Daran ändert auch nichts, dass der Friedensprozess zwischen Regierung und PKK stagniert. Ministerpräsident Erdogan hat die Kurden mit seinem Demokratiepaket von Ende September tief enttäuscht, dennoch will niemand zum bewaffneten Kampf zurück. „Wer jetzt zuerst schießt“, meint der kurdische Intellektuelle Sertac Bucak, „wird die Unterstützung der Leute verlieren.“ Für die PKK gibt es einen wichtigeren Grund, den Waffenstillstand in der Türkei einzuhalten. Sie braucht alle Kräfte in Syrien. „Der Krieg“, sagt Sertac, „hat sich von der Türkei nach Syrien verlagert.“