Auf der Reise nach Liliput

Erlösung vom Krebs, superschnelle Computer, selbstheilende Zähne: Den Nanotechnologien werden wahre Wunder zugetraut – aber auch Gefahren, die heute noch nicht einmal abzuschätzen sind

von TARIK AHMIA

Eis essen kann richtig wehtun. Wenn Zähne plötzlich dort schmerzen, wo es eigentlich um Genuss geht, dann hat das oft mit freiliegenden Zahnhälsen zu tun. Der Zahnschmelz ist beschädigt und winzige Kanäle in den Zähnen leiten jede Reizung an die Nerven weiter. Jetzt gibt es eine neue Zahnpasta, die den Schutzschmelz repariert: Die winzige Kalziumpartikel darin verwandeln sich in natürlichen Zahnschmelz, sobald sie mit Speichel in Kontakt kommen, der verschließt die Kanäle – der Schmerz wird gestoppt. Die Rettung für Eisgenießer wäre ohne Nanotechnologie nicht möglich. Das Hype-Wort der letzten Jahre versetzt seine Befürworter in Euphorie. Kritiker sehen Gefahren, die mit denen der Gentechnik oder Atomkraft vergleichbar sind.

Die Erwartungen sind hoch gesteckt: Nanotechnologie sei „die grundlegende Technologie des 21. Jahrhunderts, die zweite industrielle Revolution“. Sie soll dabei helfen, Krebs zu besiegen, die Energieprobleme lösen und Werkstoffe mit magischen Eigenschaften liefern. Mit Nanotechnologien können aber auch unbekannte Stoffe erzeugt werden, deren Gefahren vielleicht erst dann deutlich werden, wenn sie nicht mehr zu stoppen sind.

„Wir müssen immer damit rechnen, das nächste DDT oder Asbest zu produzieren“, sagt Jonathan Brant von der Rice University in Houston, Texas. Der Nano-Fachmann hat in dieser Woche auf dem internationalen Kongress „Nanotrends“ in Potsdam 160 Kollegen über die Risiken der Nanotechnologie aufgeklärt. Brant zweifelt nicht daran, dass Nanotechnologien eine Zeitenwende einläuten: „Es ist eine technologische Revolution, weil wir Atome und Moleküle zu neuen Werkstoffen kombinieren können, die es in der Natur nicht gibt.“

Die Wunder der Nanotechnik spielen sich in einer kaum vorstellbar kleinen Welt ab – ein Nanometer ist gerade mal der millionste Teil eines Millimeters. Das entspricht dem Größenverhältnis zwischen einem Heißluftballon und der Erdkugel.

Weil Nanotechniken auf so grundlegender Ebene ansetzen, revolutionieren sie alle Bereiche der Industrie – egal, ob Elektronik, Textil, Medizin oder Lebensmittel. Schon heute haben nanotechnische Produkte verblüffende Eigenschaften. Es gibt aufsprühbare, superwasserabweisende Beschichtungen für Hauswände, selbstreinigende Fensterscheiben und Socken, die alle Gerüche binden und verhindern, dass sich Pilze bilden.

Die Autoindustrie fertigt Motorteile aus Nanomaterial, die robuster und leichter sind als aus Stahl. Nanoverfahren liefern Transistoren für Computerchips, die hunderttausendmal dünner sind als ein Haar, und die Cornell Universität in New York hat einen Motor gebaut, der nicht größer als ein Molekül ist. Bemerkenswerte Erfolge gibt es auch mit Nanopartikeln, die als Fähre für Medikamente zur Behandlung von Tumoren eingesetzt werden. So zerstört der Berliner Arzt Andreas Jordan seit zwei Jahren im Rahmen einer Studie an der Berliner Charité erfolgreich Hirntumore mit Nanopartikeln.

Auf der ganzen Welt arbeiten Labore an Verfahren für neue nanotechnische Produkte. Einiges davon hört sich nach Sciencefiction an: unzerstörbare Autoreifen, Fernseher, die so dünn sind wie Papier, selbstdesinfizierende Kunststoffoberflächen und künstliche Metallmuskeln für Roboter.

Wirklich marktreife Produkte lassen aber noch immer auf sich warten. Denn noch ist es ein großes Problem, den Sprung vom Labor in die Massenproduktion zu schaffen. „Es ist sehr knifflig, die einzelnen Produktionsschritte herauszufinden, die zum fertigen Produkt führen“, sagt Jonathan Brant.

Nanopartikel stecken heute schon in vielen Alltagsgegenständen wie Kosmetika, Cremes, Farben, Lacken, Kleber, Sonnenschutzmittel und Autokatalysatoren. Ihr Risiko ist nach Einschätzung Harald Burg jedoch gering. „Das kann sich bei zukünftigen Nanomaterialien aber durchaus ändern.“

Nanopartikel aus Zinkoxid findet man zum Beispiel in Lippenstiften, die deren Hafteigenschaft verbessert. Auch Tomatenketchup enthält Siliziumdioxid in Nanogröße, das das Wasser im Tomatenmark bindet. Speisesalz und Streukäse bleiben mit Hilfe der Nanoteilchen streufähig. Sogar das Kaffeearoma lässt sich mit Nanomolekülen steigern. Von der Hebräischen Universität in Jerusalem stammt ein Verfahren, in dem Kaffeebohnen mit Nanotröpfchen besprüht werden, die Zucker und Aminosäuren enthalten. Sobald heißes Wasser dazu kommt, platzen die Kapseln und reagieren mit dem Kaffee.

Lebensmittel dürfen schon heute bis zu 10 Gramm Nanopartikel pro Kilogramm enthalten. Grenzwerte für Nanopartikel gibt es dennoch nicht, sie werden nicht einmal als mögliche Gefahr eingeordnet. In Deutschland stehen Nanotechnologien weder beim nationalen Ethikrat noch bei der Ethikkommission des Bundestags auf der Tagesordnung.

Als zentraler Baustoff der Nanotechnologien gelten vor allem Kohlenstoff-Nanoröhrchen. Sie haben aufgrund ihrer Winzigkeit ganz besondere physikalische Eigenschaften. Im Grenzbereich zwischen atomaren Bausteinen und fester Materie können diese Eigenschaften aber ebenso zauberhaft wie gruselig sein. Die Übergänge sind dabei fließend. Versuchstiere, die Nanoröhrchen in hoher Konzentration einatmeten, starben nach 24 Stunden. Umweltmediziner wie der US Nanoexperte Günter Oberdörster fürchten so etwas wie ein neues Asbest, denn die kleinen Teilchen können bis tief in die Lunge eindringen und möglicherweise Krebs verursachen. „Die größte Gefahr durch Nanopartikel geht für die Lunge aus“, bestätigt auch Umwelttoxikologen Harald Burg vom Forschungszentrum Karlsruhe.

Ein besonderes Phänomen in der Nanowelt ist, dass harmlose Substanzen durch die Verkleinerung plötzlich giftig werden. Der Schweizer Rückversicherer Swiss Re warnte deshalb schon vor zwei Jahren, selbst Nanoformen bekannter Werkstoffe wie neue Materialien zu behandeln, „weil Nanopartikel eine völlig neue Stoffklasse darstellen“. Ein Beispiel dafür ist Titandioxid.

Als Pigmentpartikel wird es in Form großer Molekülklumpen Wandfarben, Sonnencremes und sogar Lebensmitteln beigemischt. Auf Nanogröße zerhackt, verwandelt sich der eigentlich harmlose Stoff im Tierversuch zu einem gefährlichen, Krebs erregenden Zellgift.

Ein weiterer Star der künstlichen Nanoteilchen sind die so genannten Buckyballs. Auch diese Moleküle, in denen 60 Kohlenstoffatome in Form eines Fußballs angeordnet sind, töten im Laborversuch menschliche Leberzellen und lösen bei Fischen Gehirnstörungen aus.

Die kanadische Umweltorganisation ETC kritisiert, dass viele Zutaten der neuen Nanonahrung nicht ausreichend auf ihre mögliche Giftigkeit untersucht worden sind. ETC-Chef Pat Mooney fordert gar eine „Nanogeopolitik“ mit einem internationalen Frühwarnsystem unter Schirmherrschaft der UNO. Die Britische Royal Academy resümiert in einer Studie, technisch produzierte Nanoteilchen sollten grundsätzlich als gefährlich eingestuft werden, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Außerdem sollten alle giftigen Wirkungen von Nanoteilchen in einer Datenbank öffentlich zugänglich gemacht werden, forderte die britische Wissenschaftsakademie.

„Es gibt keinen Fortschritt ohne Risiko“, sagt Harald Krug und verweist deshalb auf die Verantwortung, die gerade den Toxikologen bei der Prüfung neuer nanokleiner Werkstoffe zufällt. „Bei Nanomaterialien handelt es sich immer um Metalloxide und Kohlenstoffverbindungen, über deren Wirkung wir viel wissen.“ Burg gehört zu denen, die glauben, dass genügend Erfahrungen vorhanden sind, um mögliche Risiken frühzeitig zu erkennen.

Dafür sind jedoch international standardisierte Prüfverfahren notwendig, mit denen sich neue Nanomaterialien objektiv vergleichen lassen. „Das Problem ist dabei, dass wir immer wieder an die Grenzen dessen stoßen, was überhaupt messbar ist“, sagt Georg Reimers von der Bundesanstalt für Materialprüfung. Der Wissenschaftler arbeitet an den neuen Standards mit, die helfen sollen, die Bedenken wissenschaftlich zu untermauern. Auch er sieht eine besondere Verantwortung bei den Entwicklern neuer Nanomaterialien. „Wechselwirkungen mit biologischen Systemen könnten anders sein, als man sich das vielleicht erwartet.“ Der Verbraucher müsse sich jedoch nicht fürchten. „Sorgen müssen sich diejenigen machen, die neue Stoffe herstellen und verarbeiten.“

Viele Unternehmen reagieren in Deutschland deshalb noch sehr zurückhaltend auf die neuen Werkstoffe. „Nanotechnik konnte sich in vielen Unternehmen noch nicht etablieren, weil sie die Risiken wegen fehlender Informationen nicht richtig einschätzen können“, sagt Regine Hedderich vom Forschungsnetzwerk NanoMat. Es gebe aber auch schlichtweg praktische Hürden: „Oft fehlt auch die nötige Prozesstechnik für Nanopartikel in den Betrieben.“

Bei allen Chancen und Risiken scheint schon heute klar, dass die Nanotechnik eine der Schlüsseltechniken der Zukunft ist. Harald Burg hält deshalb Transparenz bei der Prüfung neuer Nanomaterialien für besonders wichtig, denn: „Immer wenn es ums Geld verdienen geht, leidet die Transparenz“, sagt Nanotechnikforscher Jonathan Brant.

Wünschenswert sei es deshalb, so Burg, die Nanotechnologien in eine gesellschaftliche Debatte einzubetten, die in Deutschland noch kaum existiert. Da ist Großbritannien schon weiter. Dort haben Greenpeace, die Universität Cambridge und die Zeitung The Guardian eine „Nanojury“ ins Leben gerufen, in der ganz normale Bürger die Chancen und Risiken der Nanotechnologien bewerten. Mit so einem Rahmen sind die Aussichten gut, glaubt Brant: „Nanotechnologien werden viele Probleme lösen, aber wir brauchen noch viel Zeit.“