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Archiv-Artikel

Was ich als Liebe deute

FRAUENBILDER Ein schwieriger und lohnender Roman, der sprachlich den schmalen Grat zwischen Begehren, Fürsorge, Erziehung und Gewalt umkreist: „Darling River“ von Sara Stridsberg

Die 41-jährige schwedische Schriftstellerin Sara Stridsberg hat eine große Affinität zu gebrochenen Frauenfiguren, solchen, die eine Gefährdung durch ihr Frausein ebenso verkörpern wie eine gleichzeitig darin liegende eigentümliche Subversion. In ihrem Debüt ging es um Sally Bauer, die erste Skandinavierin, die den Ärmelkanal durchschwamm. Im 2006 erschienenen Roman „Traumfabrik“ näherte sie sich auf beeindruckende Weise Valerie Solanas, Verfasserin des „Manifests der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer“ und bekannt durch ihr Attentat auf Andy Warhol 1968.

Nun widmet sich Stridsberg einer literarischen Figur, die jedoch als Fantasie, als Projektionsfläche viel über gesellschaftlich wirkende Frauenbilder verrät: Vladimir Nabokovs Lolita, die berühmte Kindfrau und vermeintliche Verführerin. Der Roman trägt den Untertitel „Doloresvariationen“ – Stridsberg ergänzt die eine bekannte Lolita-(Männer-)Fantasie um vier Varianten: Herzstück ist die Geschichte des Mädchens Lo, das mit ihrem Vater nächtelang mit dem Auto umherirrt, an brennenden Wäldern entlang, es sind wohl die fünfziger Jahre. Lo, die sich mit älteren Männern, die sie „Brüder“ nennt, am Darling River trifft, mit ihnen schläft, während der Vater auf sie wartet. Die ihre Mutter vermisst, die gegangen ist, nachdem der Vater im Wald auf deren Kleider schoss; die an einer Augenkrankheit leidet, die ihre Wahrnehmung auf besondere Weise beeinträchtigt: „ […] ich werde stets Fehleinschätzungen vornehmen und alles, was mir passiert, anders verstehen als andere. […] Was ich als Liebe deute, ist in den Augen meiner Umwelt nichts anderes als Gewalt und Feindseligkeit.“

Stridsberg lässt die vier Variationen – unter anderem geht es auch um eine allein reisende Mutter, die Mann und Kind verlassen hat, sowie um die Geschichte einer Äffin in Paris – sich gegenseitig bespiegeln: Die Motive von Tod, Einsamkeit, Selbstverachtung, Krankheit, einer nie von Gewalt gelösten Liebe verbinden alle. Die Autorin leitet dies nicht psychologisch her, sie beschreibt, sie vervollständigt. Ihr Mittel ist eine Empathie, der es darauf ankommt, die Figuren, die sie erzählt, im Akt des Erzählens nicht zu zerstören, zu vereinnahmen. Damit geschriebene Geschichten nicht zu Särgen für die Figuren würden, so das ungewöhnliche Bild Stridsbergs in einem Gespräch. Das Bild der Skizze taucht auch in den anderen Varianten auf – immer wieder finden sich derlei Verweise, dezent und doch bedeutsam, die die vier formal durch Kapitel klar getrennten Stränge verbinden.

Ekel und Schönheit

Verbindung schaffen auch die unter der Überschrift „Enzyklopädie“ eingeschobenen Wortdefinitionen, assoziativ schwebende, Bedeutungsräume öffnende Miniaturen: „Der erste Traum: […] Die Spiegeloberfläche zeigt eine Gestalt, auf die das Kind lange gewartet hat, doch auf der anderen Seite des Silberglases ist nur Leere. In einem Spiegel hängen zu bleiben heißt, in einem Traum hängen zu bleiben.“

Gewalttätigkeit, Körperbilder, die den Ekel nicht scheuen, gehören ebenso zu Stridsberg sprachlichem Repertoire wie poetische Bilder, die schön sind, bezaubernd gar, aber denen auch fast immer einsame Düsternis eigen ist. Diese Mischung und auch ihre Art der Annäherung prägten schon das Buch über Valerie Solanas und erzeugten so, nicht durch einen stringenten Plot, eine Intensität, die auch den neuen Roman auszeichnet, in dem Stridsberg eine Begehrensstruktur und den schmalen Grat zwischen Liebe, Fürsorge, Erziehung und Gewalt umkreist. Die Momente der Subversion, der Wut und des Aufbegehrens, die Valerie Solanas so offensichtlich in sich trug, sind in „Darling River“ hingegen sehr leise, schmerzlich leise. CAROLA EBELING

Sara Stridsberg: „Darling River“. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Fischer, Frankfurt/Main 2013, 334 Seiten, 21,99 Euro