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Archiv-Artikel

Die Regeln der Erregung

PROJEKTION Die Medien produzieren täglich Erregungsvorschläge, aber nur wenige taugen zur Skandalisierung. Die Vorstellung, dass Menschen fehlbar sind, ist das erste Opfer ihrer Logik

Der Wulff-Prozess

■ Vor Gericht: Am Donnerstag, den 14. November, beginnt in Hannover der Prozess gegen den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff wegen Vorteilsnahme in seiner Zeit als Regierungschef Niedersachsens.

■ Vor der Kamera: Von den letzten 68 Tagen in der Amtszeit von Christian Wulff soll ein Dokudrama auf Sat.1 im Frühjahr 2014 erzählen. Den Präsidenten spielt Kai Wiesinger, seine Frau Bettina wird von Anja Kling dargestellt.

■ Vor der Kanzlerin: Karl-Theodor zu Guttenberg, der am Ende einer Plagiatsaffäre als Minister zurückgetreten war, soll sich in dieser Woche mit Angela Merkel im Kanzleramt getroffen haben.

VON FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH

Mit Rudolf Scharping erzielte die SPD im Jahr 1994 ein besseres Ergebnis als zuletzt mit Schröder, Steinmeier oder Steinbrück. Den letzten Titel errang die deutsche Fußballnationalmannschaft unter Berti Vogts – Europameister 1996. Wo Rau delirierte und Köhler dilettierte, setzte Christian Wulff ein Wort: „Der Islam gehört zu Deutschland.“

Der Fakten entkleidet klingt die Aufzählung „Scharping, Vogts, Wulff“ jedoch als Einladung, nun sei über Loser, peinliche Versager, Gescheiterte zu reden. Zumal in veröffentlichten Texten stehen sie heute als Glanzbeispiele jener Ohrfeigensorte Mensch, die das je untere Ende ihres Fachgebiets zu beschreiben haben. Darüber hinaus dienen sie als Projektionsfläche. So schlimm versagt möchte der schaudernde Leser, die gruselnde Zuschauerin nicht haben. Der Stau auf der Gegenfahrbahn ist oft genauso lang wie der durch den Unfall verursachte: Deshalb verkaufen sich Zeitungen und Sendungen gut.

Die mediale Aufbereitung des politischen und gesellschaftlichen Ensembles folgt der Logik des RTL-Nachmittags. Dort werden die Erbauungssdeppen gescriptet, um ganz sicher zu gehen, dass sie noch dümmer agieren als der dümmstmögliche Zuschauer. Dann freut der sich.

Peter Sloterdijk entzauberte Nachrichten und medial vermittelte Ereignisse nüchtern als „Erregungsvorschläge“. Jede moderne Nation produziere 20 bis 30 davon täglich, die meisten würden abgelehnt oder mit mäßigem Appetit übers Tellerchen geschoben. Irrwitzige oder willkürliche Skandalisierungen sollte man dem Philosophen zum Dank künftig in Sloti bewerten statt der althergebrachten „Prioritäten“. Ursprünglich teilten Nachrichtenagenturen ihre Meldungen so ein : von „1“ – sofort auf den Tisch bis „5“ – das Papier hätte sich ohne Beschriftung gelangweilt.

Nun kann gemutmaßt werden: Welcher Erregungsvorschlag funktioniert warum? Personalisierung ist wichtig. Auf ein Abstraktum projiziert es sich so unkommod. Sozialdemokratische Law-and-Order-Politik ist vielen unsympathisch, doch den kauzigen Schmidt, Unteroffizier und Flegel in einem, bewundert man. Sein Leben war eine Predigt der Disziplin, während derer er sich unausgesetzt daneben benahm.

Der Twist ist wichtig. Mann muss Hund beißen oder wie es eine Unterhaltungsregel fordert: fish out of water. Der korrupte Grüne, der gute Christ mit der Nazi-Abseite; Hochwohlgeboren mit gepfuschtem Doktor.

Schließlich die Fallhöhe: Man lädt einen Sozi ein und bekommt NPD-Gedankengut, er war Finanzsenator und schwafelt von jüdischen Genen. In dieser Logik war Sarrazin für Talkshows ein Designergast. Ähnlich Schill, aus dem sich die Bild-Zeitung unter Zuhilfenahme von ein bisschen Koks die Figur des „Richter Gnadenlos“ bastelte.

Man kann aber auch alles richtig machen – richtig mit sich machen lassen – und doch scheitern. Wie just Susanne Gaschke: fish out of water, Journalistin als OB, großer Hingucker. Der Fehler ist nicht der Fehler, den man macht. Sondern die Idee von der eigenen Fehlbarkeit. Wer öffentlich mehr zugibt als das Nötigste, wer unklug lügt, liefert sich aus. Kohl und Merkel ließen sich kaum je dabei erwischen, ihre Meinung zu sagen, bevor sie mehrheitsfähig war.

Einer wie Brandt, der sich über Wochen mit Depressionen zurückzog, konnte nicht ewig regieren. Misserfolge gehörten zu seiner Welt; da war er nicht Politiker, sondern Mensch. Wieder andere bekamen, hinreichend entmenscht und im zwanghaften Glauben an sich eingepfercht, ihr Ego-Verlies nur noch final auf: Jürgen Möllemann, Uwe Barschel.

Zwei kleine Handwerksregeln helfen, sich diese Unübersichtlichkeiten zu sortieren. Erstens: Was von dem, was mich heute erregen soll, wird in 30 Jahren im Geschichtsbuch stehen? Über 2013 wohl etwas über Euro- und Finanzkrise, über eine bedrohliche Lage für das Projekt Europa. Und schon erkennt man die zurückliegenden Monate als große Omertà, die sich als Wahlkampf getarnt hatte. Alle personellen Skandale schrumpfen auf bestenfalls eine Fußnote: „Hohe Fluktuation im Kabinett Merkel 2“.

Wenn die Hubschrauberperspektive nicht ausreicht, Wichtiges vom Volkstheater zu scheiden, hilft zweitens diese Frage weiter: „Cui bono – wem nützt es?“ Wird Bild wirklich cool, wenn ihre Macher, fish out of water, neuerdings bärtige Netznerds darstellen? Oder soll mir Müll parfümiert werden? Ist Joachim Gauck der bessere Bundespräsident, oder auch ein gut geföhntes Alibi, das heikle Wort vom deutschen Islam zurückzuholen? Wem nützt es, dass sich die Sozis vor der Linkenkeule fürchten?

Die Frage, ob die Elite der Loser uns besser regieren würde, wäre naiv. Man darf aber bezweifeln, ob sie es deutlich schlechter machen würden. Das Verliebtsein in Macht, der Kotau vor Skrupellosigkeit, die Flucht unter die Fuchtel des Starken: Das ist Bayern München, Gerhard Schröder, Mercedes-Benz. Oder kurz: vordemokratisch.

Ohne Skandale wären, das mag sein, an manchen Tagen die Zeitungen leer. Mit Skandalen sind sie es auch.