: „Es gibt keine Elfenbeintürme mehr“
Er ist der Netzwerker der Netzwerke rund um die Ostsee: Kurt Bodewig, Vorstandschef des Baltic Sea Forum (BSF), im taz-Interview über Wirtschaft und Wissenschaft in Europas Boomregion zwischen Hamburg und St. Petersburg
taz: Herr Bodewig, im wachsenden Handel in Nordosteuropa sieht Hamburg sich als die Drehscheibe. Ist das typisch hanseatische Arroganz?
Kurt Bodewig: Nein, Hamburg bleibt das Tor zur Welt und wird zum Tor zur Ostsee, zu einem Wirtschaftsraum, der sich ungeheuer dynamisch entwickelt. Schon jetzt werden über neun Prozent des Bruttosozialproduktes der Welt in dieser Region erwirtschaftet. Das bedeutet auch ein ungeheures Volumen an Transporten, besonders auch für Hamburg und seinen Hafen.
Besteht denn diese Region für Sie und das BSF vor allem aus Wirtschaftswegen?
Natürlich nicht. Auch die kulturellen und wissenschaftlichen Kooperationen haben sich erfreulich entwickelt, internationale Studiengänge wurden bereits eingerichtet. Die Fachhochschule Stralsund zum Beispiel bietet einen englischsprachigen Studiengang „Baltic Management Studies“ zusammen mit Hochschulen in St. Petersburg, Riga in Lettland und Kouvola in Finnland an. Das Studium wird teilweise per Internetdialog absolviert, dann folgen Auslandssemester an den Partneruniversitäten. Auch die Technische Universität Hamburg-Harburg hat vielfältige Beziehungen zu Universitäten rund um die Ostsee.
Ziel dieser Entwicklung ist der so genannte Baltic Virtual Campus – die Ostsee-Universität. Fördert das aber zunächst nicht auch neue Konkurrenzen um Studierende, Wissenschaftler und Finanzmittel?
Das kommt darauf an, was man daraus macht. Es gibt keine Abschottungen mehr und auch keine Elfenbeintürme. Der dänisch-schwedische Raum Kopenhagen-Malmö-Lund hat sich zu einem der größten Hochschulstandorte Europas entwickelt – da sollte kooperieren, wer profitieren will.
Das BSF ist ein exklusiver Zirkel, der mit Vorliebe hinter verschlossenen Türen tagt. Sind Sie, Herr Bodewig, ein Lobbyist, der auch Politik macht, oder ein Politiker, der Fäden spinnt?
Es geht nicht um eigennützigen Lobbyismus. Das BSF ist eine Nicht-Regierungsorganisation, deren Ziel vor allem darin besteht, eine Ostsee-Identität zu entwickeln. Wir wollen Kooperationen vorantreiben, in der Politik, in der Wirtschaft, in Kultur und Wissenschaft und auch im Umweltschutz. Es gibt in diesem Raum sehr viele unterschiedliche Beziehungen, die wir bündeln möchten. Wir verstehen uns als Netzwerk der Netzwerke.
Wie wird nach Ihrer Einschätzung der Ostseeraum im Jahr 2020 aussehen?
Er ist der dynamischste Wachstumsraum in Europa. Er wird alle anderen Regionen mit Abstand hinter sich lassen. Das ist eine Chance in jeder Hinsicht. Meine Vision: In 14 Jahren werden die jungen Menschen der Region ein oder zwei Jahre in einem der anderen Länder gelernt, studiert oder gearbeitet haben, sie werden die Landessprache beherrschen und Englisch natürlich ohnehin. Sie werden nicht nur persönlich eine gute berufliche Perspektive haben, sondern auch ein ganz anderes Verständnis haben für die anderen Kulturen, sie werden eine höhere Identifikation mit dieser Region spüren.
Klingt ja traumhaft …
Ich bin davon überzeugt, dass es so kommen wird. Und dann wäre ich sehr zufrieden.
Unter all den genannten Aspekten müssten Sie eigentlich ein Befürworter eines Nordstaates aus Hamburg und Schleswig-Holstein sein.
Als Mitglied des Deutschen Bundestages halte ich mich aus dieser Debatte raus, weil sie Ländersache ist. Als Chairman des BSF begrüße ich die zunehmenden Kooperationen in Norddeutschland sehr. Ich denke, um es vorsichtig auszudrücken, dass es im Jahr 2020 keine 16 Bundesländer mehr geben wird.
Interview: Sven-Michael Veit