: Eine vorhersehbare Debatte
Die Diskussion um die Föderalismusreform lässt einige entscheidende Fragen aus – etwa die, ob ein effizientes politisches Systen immer auch ein besseres politisches System ist
Von Politik und manchen Medien wurde sie zur „Mutter der Reformen“ hochstilisiert. Jetzt sieht es so aus, als habe der neueste Anlauf Deutschlands, sein föderales System umzubauen, tatsächlich an Schwung gewonnen. Der Bundesrat will sein Vetorecht für weite Bereiche der Bundesgesetzgebung aufgeben. Im Gegenzug erhalten die Bundesländer wachsende Kontrolle über Angelegenheiten wie Umwelt- und Bildungspolitik – auch wenn dies nicht von einem höheren Grad finanzpolitischer Eigenständigkeit begleitet sein wird.
Unter der Schirmherrschaft einer großen Koalition und der Kanzlerin Angela Merkel sieht es so aus, als ob deutsche Politiker endlich eine Kur gefunden hätten, die selbst diagnostizierte Krankheit institutioneller „Verstopfung“ zu heilen. Eine „Blockade“ soll aufgehoben werden. Der Vorstoß der schwarz-roten Koalition klingt in der Tat verführerisch: Mit dem Versprechen auf „effektives Regieren“ und „Entflechtung der Verflechtung“ soll es auf drängende Probleme künftig schnellere staatliche Antworten geben.
Zudem wird sich die Verabschiedung von Bundesgesetzen stark vereinfachen. Wenn der Bundesrat dafür weitgehend auf sein Vetorecht verzichten muss – so jedenfalls scheint der Konsens zu lauten –, dann wird es das wert sein. Wer wollte schließlich gegen einen Vorschlag auftreten, der Deutschlands politischen Eliten helfen soll, ein für alle Mal die wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Probleme des Landes zu lösen?
Von außen betrachtet, sind die Diskussionen, die in der anstehenden vieltägigen Anhörung in Bundestag und Bundesrat geführt werden werden, allerdings geradezu verblüffend unhistorisch und naiv. In der gegenwärtigen erhitzten Auseinandersetzung scheinen die Beteiligten zu übersehen, dass Deutschlands Föderalismus das Ergebnis zweier unterschiedlicher historischer Entwicklungen ist, die den Deutschen zu denken geben sollten, ehe sie sich auf eine so dramatische Verfassungsänderung einlassen.
Zunächst ist Deutschlands Föderalismus weitgehend ein Konstrukt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der kein effektiver Staat geschaffen werden sollte, sondern das genaue Gegenteil: ein ineffektiver Staat, anders gesagt, ein Staat in Machtbalance. Natürlich ist die Staatsmacht ein wertvolles Instrument, um auf reale Probleme eine legitimierte Antwort geben zu können.
James Madison, einer der hervorragendsten Theoretiker der Demokratie, hat uns aber auch vor über zwei Jahrhunderten gewarnt, dass „Menschen keine Engel sind“ und Staatsmacht in Menschenhand immer ein Gegengewicht erfordere. Gerade dieses in Institutionen wie dem Bundesrat verkörperte Prinzip hat maßgeblich zu der historisch einmaligen Stabilität der heutigen deutschen Demokratie beigetragen.
Der deutsche Nachkriegsföderalismus ging 1949 aus dem Parlamentarischen Rat hervor, die Alliierten befürworteten ihn. Sein Ziel bestand darin, die Macht so weit zu festigen, dass Regierungsfähigkeit herrsche. Gleichzeitig aber wurde durch Verteilung der Staatsmacht quer über horizontale und vertikale Ebenen die Wiederherstellung der allzu effizienten Regierungsform aus Deutschlands jüngster Vergangenheit verhindert.
Deshalb sind vor einer so dramatischen Revision des deutschen Föderalismus unbedingt einige entscheidende Fragen zu stellen: Was müsste Deutschland dafür aufgeben? Ist es erstrebenswert, einen Eckpfeiler der institutionellen Struktur, der zu Deutschlands historisch einmaliger Nachkriegskombination aus Wohlstand und Demokratie geführt hat, aufzugeben, ohne zu wissen, wie erfolgreich dieses Unternehmen sein wird? Und welcher Preis müsste in Bezug auf die Stabilität der Demokratie gezahlt werden? Lohnt sich das Risiko?
Die zweite historische Zweig im heutigen deutschen Föderalismus reicht noch viel weiter zurück. Einige der entscheidenden Regierungsstrukturen und Verfahrensweisen des deutschen Föderalsystems, die es so besonders macht, wurzeln in den von Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts geschaffenen Organen. Der Bundesrat hat sogar das Erbe eines gleichnamigen Vorläufers angetreten, das Deutschlands alte Landesfürsten repräsentierte. Wichtige Einrichtungen wie die Ministerkonferenz gehen ebenfalls auf das 19. Jahrhundert zurück.
Zwei institutionelle Vermächtnisse des 19. Jahrhunderts sind aber von besonderer Bedeutung: der Exekutivföderalismus, wodurch die Landesregierungen Bundesrecht umsetzen, und die Verzahnung der Finanzbeziehungen zwischen Ländern und Bund. Während das Kaiserreich allerdings von den Einzelstaaten abhängig war, ist es heute genau umgekehrt: Die Länder sind auf die Bundesregierung angewiesen. Dennoch gibt es eine Tradition ineinander greifender Finanzbeziehungen und eine Aufteilung der Einnahmen auf Regierungsebene, die so tief in die deutsche Geschichte eingebettet ist, dass die US-amerikanischen Reformer nach dem Zweiten Weltkrieg eine amerikanische Version des Finanzföderalismus nicht durchsetzen konnten.
Außerdem sind Deutschlands langjährige verzahnte Finanzbeziehungen insofern bemerkenswert, als die vorliegenden Verfassungsentwürfe die heutige Variante dieser Finanzbeziehungen gar nicht erst erwähnen: den Länderfinanzausgleich. Dabei handelt es sich um ein Finanzabkommen zwischen den Ländern, welches die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Grundgesetz, Artikel 106, Absatz 3) garantieren soll. Die Fürsprecher der Reform sind sich bewusst, dass jeder Versuch, diesen Finanzausgleich zu verändern, das Gesamtprojekt gefährden würde.
Deshalb tastet die jetzige Reform dieses Thema gar nicht erst an. Eine echte Reform des deutschen Föderalismus, die den Bundesländern mehr gesetzgeberische „Autonomie“ gewährt, würde ihnen auch höhere „Finanzautonomie“ einräumen müssen. Doch angesichts einer so weit zurückreichenden Geschichte wird solch ein Vorschlag nur schwerlich durchführbar sein.
Zusammengefasst: In den kommenden Wochen werden wir eine vorhersehbare Debatte geboten bekommen: Die Fürsprecher der Reform werden sagen, dass mit ihr Deutschlands Regierungsarbeit beschleunigt werden und effektiver werden kann. Die Kritiker der Reform werden behaupten, dass die Effizienz nicht genügend gesteigert werden wird.
Während der erhitzten Auseinandersetzung lohnt es sich, in Ruhe über zwei einfache Fragen nachzudenken: Ist ein effizientes politisches System immer auch ein besseres politisches System? Und selbst wenn sie erstrebenswert wäre: Ist eine Reform des föderalistischen Deutschland überhaupt durchführbar?
DANIEL ZIBLATT
Aus dem Amerikanischen von Rosemarie Nünning