: Hunderte könnten noch leben
ITALIEN Schwere Vorwürfe gegen Küstenwache: Laut Überlebenden der Schiffskatastrophe vom 11. Oktober reagierten die Behörden stundenlang nicht auf eingegangenen Notruf
AUS ROM MICHAEL BRAUN
268 im Mittelmeer ertrunkene Syrer könnten noch leben, wenn die italienischen Behörden nicht stundenlang ihre Notrufe ignoriert hätten. Diese Anklage erheben jetzt mehrere Überlebende des am 11. Oktober etwa 100 Kilometer vor Lampedusa untergegangenen Schiffs.
An jenem Freitag trafen erste Rettungskräfte gegen 17.50 Uhr am Unglücksort ein, 20 Minuten nachdem das Schiff gekentert war. Über Stunden hinweg war Wasser in den Rumpf eingedrungen, womöglich auch weil das Boot in Libyen mit Maschinengewehren beschossen worden war. Maltesische und italienische Einheiten konnten 206 Menschen retten, für 268, darunter 60 Kinder, kam die Hilfe zu spät.
Ein syrischer Arzt berichtete jetzt dem italienischen Wochenmagazin L’Espresso, er selbst habe mit dem Satellitentelefon des Kapitäns schon um 11 Uhr eine italienische Notrufnummer – wahrscheinlich der Küstenwache – gewählt. Die Frau am anderen Ende der Leitung habe sich die per GPS ermittelte exakte Position durchgeben lassen; er habe ihr gegenüber betont, dass das Schiff volllaufe und unterzugehen drohe. Daraufhin habe die Italienerin „Okay, okay!“ geantwortet. Doch als nach eineinhalb Stunden nichts geschah, rief der Arzt erneut an, wiederum wird ihm „okay!“ geantwortet – und aufgelegt. Erst bei einem dritten Anruf um 13 Uhr kommt dann die Antwort, die Syrer sollten sich nicht an die italienischen, sondern an die maltesischen Behörden wenden, da Malta für die Überwachung jenes Seegebiets zuständig sei. Ein italienischer Beamter habe die maltesische Notrufnummer diktiert – und dann aufgelegt, obwohl der Syrer verzweifelt um Hilfe flehte und obwohl Malta 230 Kilometer vom Unglücksort entfernt liegt. Die Aussage des Arztes, der selbst zwei seiner Kinder bei der Tragödie verlor, wurde von mehreren anderen Passagieren bestätigt.
Hätten die italienischen Behörden dagegen umgehend ihre Schnellboote von Lampedusa aus in Marsch gesetzt, so hätte die Rettungsaktion am Katastrophenort schon gegen 13 Uhr anlaufen können, mehrere Stunden vor dem Untergang.
Die Staatsanwaltschaft Palermo hat auf Lampedusa einen 24-jährigen Somalier verhaftet. Er soll als Schlepper eine Schlüsselrolle bei der Schiffskatastrophe vom 3. Oktober gespielt haben, als direkt vor Lampedusa 366 Eritreer ertranken. Am 25. Oktober war der junge Mann selbst auf der Insel als Flüchtling eingetroffen. Im Aufnahmelager wurde er von mehreren Eritreern wiedererkannt. Sie sagten aus, er habe viele von ihnen gefoltert, um von den Familien in Eritrea weitere hohe Summen zu erpressen. So seien alle Frauen aus der Gruppe vergewaltigt worden.