: Das Armutszeugnis
Migrantenkinder haben in Deutschland keine Zukunft – sagt eine aktuelle OECD-Studie
VON SASCHA TEGTMEIER
Pisa blamiert das deutsche Bildungssystem schon wieder: In kaum einem anderen der 17 untersuchten Industriestaaten haben Migrantenkinder so schlechte Bildungschancen wie in Deutschland. Das geht aus der neuesten Pisa-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervor, die gestern in Berlin, Brüssel und Washington vorgestellt wurde. Es ist eine weitere Auswertung der Studie aus dem Jahre 2003, in der die schulischen Leistungen von 15-Jährigen getestet wurden. Das düstere Bild, das sich von der Bildung von Migrantenkindern schon vor drei Jahren abzeichnete, wird von der neuen Studie mehr als bestätigt.
Schlusslicht (s. Grafik) im internationalen Vergleich ist Deutschland bei den Leistungen der im Land geborenen Schüler mit Migrationshintergrund. In keinem anderen der untersuchten Industriestaaten driften die Rechenleistungen der so genannten Kinder der zweiten Generation und der Einheimischen so sehr auseinander wie in Deutschland: Mit ihren Leistungen hinken Migrantenkinder den Deutschstämmigen gut 3 Jahre hinterher. Ähnlich katastrophal ist es bei den Lesefähigkeiten.
Die Leistungen der Migrantenkinder erster Generation weichen von denen der Einheimischen zwar weniger ab. Bei allen einzelnen Leistungsüberprüfungen liegen die deutschen Migrantenkids jedoch stets im unteren Viertel der 17 Vergleichsländer (bestenfalls Platz 14). In Mathematik liegen sie durchschnittlich ein Schuljahr zurück.
Die Ergebnisse können nicht auf soziale Probleme abgeschoben werden. Denn die soziale und wirtschaftliche Situation der Eltern wurde von der OECD bereits herausgerechnet. Egal also, wie reich oder arm die Eltern sind oder aus welcher sozialen Schicht sie stammen: Wer aus einem ausländischen Haushalt stammt, hat in Deutschland kaum Chancen auf eine gute Schulbildung.
Betrachtet man, was die Kids tatsächlich können, wird das Ausmaß dieses Defizits deutlich. Beinahe die Hälfte der Migrantenkinder zweiter Generation hat so schlechte Kenntnisse in Mathematik, dass sie nach Einschätzung der OECD-Experten nicht auf dem Arbeitsmarkt bestehen können.
Dass Migrantenkinder zweiter Generation schlechtere Bildungschancen haben als jene, die nicht hier geboren wurden, ist ein Armutszeugnis für das deutsche Bildungssystem. Denn die Entwicklung geht dahin, dass die Migrantenkinder im Laufe der Zeit immer ungebildeter werden – und nicht gebildeter. In den meisten Industriestaaten verläuft die Entwicklung genau umgekehrt: Die Schüler, die in dem jeweiligen Land geboren wurden, haben bessere Bildungschancen als solche, die erst eingewandert sind. Kanada, Luxemburg, Schweden, die Schweiz und Hongkong sind die Musterländer dafür. Der reflexartige Einwand von konservativer Seite, der Grund für das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der Schülerintegration liege an den Herkunftsländern der Migranten, wird von der Studie durch einen Vergleich mit der Schweiz entkräftet. Denn die dort lebenden türkischstämmigen Schüler sind jenen in Deutschland im Rechnen und Lesen ein gutes Schuljahr voraus.
Was macht ein Land wie die Schweiz also besser? Die OECD-Bildungsdirektorin Barabara Ischinger sagte bei der Vorstellung der Studie dazu: „In Ländern mit klar strukturierten Sprachprogrammen fällt der Leistungsunterschied geringer aus.“ In Deutschland gibt es noch unterschiedliche Ansätze zur Sprachförderung. Der Bund will sich aus der Problemlösung finanziell weitgehend heraushalten. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) forderte die Bundesländer auf, mehr Geld in die Integration von Migrantenkindern zu stecken. Der Bund würde dafür Wirksamkeitsstudien zu den Sprachförderprogrammen unterstützen. „Geld des Bundes ist kein Ersatz für gute Bildungspolitik“, sagte die Ministerin.
OECD-Experte Andreas Schleicher macht vielmehr das dreigliedrige Schulsystem für das schlechte Abschneiden Deutschlands in der neuen Studie verantwortlich. Der Pisa-Koordinator sagte, dadurch würden Schüler mit Migrationshintergrund derart in den Hauptschulen konzentriert, dass die Probleme von den Lehrern kaum noch bewältigt werden könnten.