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Archiv-Artikel

Einmaliges Vertrauen in das Volk

Parlament beschließt heute Verfassungsreform. Wähler dürfen sie am 17. September mit einfacher Mehrheit absegnen. Hürden für von Bürgern initiierte Änderungen sind aber fast unüberwindbar

von ULRICH SCHULTE

Doppelmoral gehört zum politischen Geschäft. In der heutigen Plenardebatte werden die Parteien dem Volk die Macht über die Verfassung in die Hände legen. Genau ein einziges Mal. Denn danach, auch das werden die Abgeordneten beschließen, sollen die Bürger gefälligst die Finger von der Gesetzessammlung lassen.

Die Parlamentarier bringen die große Verfassungsreform – die die Rechte von Bürgern, Abgeordneten und dem Regierungschef ändert (siehe Kasten) – mit einem Trick auf den Weg. Und der funktioniert so: Für die Änderung der – die Volksbegehren regelnden – Paragrafen 62 und 63 ist eine Volksabstimmung nötig. Die soll am 17. September parallel zur Abgeordnetenhauswahl vonstatten gehen. Ihren Ablauf regeln die Fraktionen in einem eigenen Minigesetz. „Die Zustimmung […] ist erteilt, wenn mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen die Abstimmungsfrage bejaht“, heißt es darin pragmatisch und einfach.

Das wäre nicht weiter erwähnenswert. Wenn nicht zu der Reform gehören würde, dass die Bürger die Verfassung auch in Eigenregie ändern könnten. Zumindest theoretisch. Doch vor die Verfassungsänderung per Volksbegehren haben die Parteien unüberwindbare Hürden gebaut. Hat eine Bürgerinitiative einen Volksentscheid durchgesetzt, gilt: Zwei Drittel der Abstimmenden müssen für das Anliegen votieren, die einfache Mehrheit reicht nicht. Zudem muss die Hälfte der Wahlberechtigten zustimmen – in Berlin dürfen 2,44 Millionen Menschen zur Abgeordnetenhauswahl gehen. „Diese beiden Hürden schließen faktisch jede Verfassungsänderung durch die Bürger aus“, sagt Michael Efler vom Verein Mehr Demokratie.

Böse gesagt: Wenn die Parteien die Verfassungsänderung vorher ausgekungelt haben, dürfen die Bürger unkompliziert abnicken. Jedes Engagement mit ähnlichem Ziel, das jedoch allein vom Volk ausgeht, wird wirksam unterbunden. Die Volte der Parteienvertreter beinhalte „eine gewisse Doppelmoral“, sagt Efler. „Konsequent ist das nicht.“ Der Bürgerlobbyist bleibt aber gelassen: Natürlich hätten die Parteien kein Interesse daran, ihr Projekt durch Hürden zu erschweren, so Efler. Sein Verein lobt die Reform ausdrücklich.

Auch die Linkspartei, die für viel niedriger Hürden kämpfte, will sich das Erreichte nicht vermiesen lassen. „In einem Kompromiss begibt man sich immer in Widersprüche“, sagt Landeschef Klaus Lederer. Mehr sei im parlamentarischen Raum nicht drin gewesen. „Es gibt noch eine große Angst vor dem Volk“, bedauert Lederer. Gerade die Möglichkeit für Bürger, die Verfassung umzuschreiben, sei angesichts so hoher Hürden „eher ein Symbol“.

Für das Vorhaben war eine Zweidrittelmehrheit im Parlament nötig, alle Fraktionen mussten Abstriche machen. Die SPD sträubte sich lange dagegen, den Bürgern mehr Macht abzugeben. Den Durchbruch brachte ein im Januar abgeschlossener Deal der rot-roten Koalition. Die SPD zog mit, weil sich die Linkspartei bereit erklärte, die Position des Regierenden Bürgermeisters zu stärken.

Die Verfassungsreform wird heute nach einer zehnminütigen Rede von Parlamentspräsident Walter Momper (SPD) beschlossen, eine Debatte ist nicht geplant – business as usual.