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Der Delegierte Null

Viele hoffen, der Auftritt von Marcos könnte irgendwie zur Lösung ihrer Probleme beitragen

AUS CUERNAVACA UND TLALNEPANTLA WOLF-DIETER VOGEL

Wieder ist es heute spät geworden. Die Gespräche in der indigenen Gemeinde Zirahuén, das Treffen mit Schülern im San-Nicolas-Gymnasium, dann die kurze Nacht im „Haus Lenin“ in Morelia, und jetzt hier, 400 Kilometer südlich, in der zentralmexikanischen Stadt Cuernavaca. Ein paar Glühbirnen beleuchten spärlich den Hof der „Ökumenischen Gemeinde für sexuelle Diversität“, die Glaubensgemeinschaft wird von schwulen Pfarrern geleitet. Die dunklen Augen des Subcomandante blicken müde aus dem schmalen Schlitz, den seine schwarze Stoffmaske frei lässt.

Mindestens zum dreißigsten Mal an diesem Tag zündet er seine Pfeife an. Für größere Aktivitäten ist der Mann, der im Rahmen der „Anderen Kampagne“ seit vier Monaten als „Delegierter Null“ des Zapatistischen Befreiungsheers EZLN durch Mexiko reist, nicht mehr zu haben. Ein öffentlicher Auftritt, ein internes Treffen, ein Abend mit Menschenrechtlern und Umweltschützern – genug für heute. Gekleidet in schwarze Armeehose und braune Jacke, einen Kopfhörer über der schwarzen Maske, steht Subcomandante Marcos am Waschbecken und spült Geschirr. „Wenigstens hat mir hier niemand gleich nach dem Essen den Teller aus der Hand gerissen“, sagt er.

Sein Reiseplan lässt keinen Spielraum. Innerhalb von sechs Monaten besucht der „Delegierte Null“ alle 32 Bundesstaaten Mexikos. Angefangen im südöstliche Chiapas fährt er über die zentralmexikanischen Regionen bis an die Nordgrenze. Er soll die „Andere Kampagne“ in Schwung bringen. Zu dieser Gegeninitiative zum Präsidentschaftswahlkampf haben die indigenen Rebellen im vergangenen Sommer aufgerufen. „Von unten und für die von unten“ wollen sie für eine „Alternative zur neoliberalen Zerstörung“ kämpfen. Man will ein Netzwerk mit allen bilden, denen die kapitalistische Modernisierung nur Armut und Ausgrenzung bringt: mit den Bauern, deren Gemeindeland im Rahmen der Bodenreform verkauft werden soll; mit den Indígenas, deren Kollektivrechte bis heute nicht festgeschrieben sind; mit den Arbeitern der Staatsbetriebe, denen durch Unternehmensprivatisierungen die Kündigung droht.

Schon heute sind mehr als sechzig Prozent der Mexikanerinnen und Mexikaner arm, hunderttausende wandern jährlich in die USA aus, um dort Arbeit und Glück zu suchen. „Ya basta“ – „Es reicht!“ hatten deshalb die Zapatisten im Januar 1994 erklärt, als sie mit einem bewaffneten Aufstand erstmals öffentlich in Erscheinung traten. Damals stand die Situation der indigenen Bevölkerung im Vordergrund, heute wollen sie Menschen aus anderen Bereichen zusammenbringen. Deshalb trifft Marcos auf seiner Reise etwa tausend Organisationen, Initiativen oder Gemeindesprecher, die sich der „Anderen Kampagne“ angeschlossen haben.

Doch heute ist der Tagesplan durcheinander gekommen, deshalb muss Marcos seinen für morgen geplanten Auftritt in Tepoztlán absagen. Seine Anhänger dort konnten sich nicht mit der Gruppe aus dem Nachbardorf darüber einigen, wo der Guerillero auftreten soll. „Solche Streitigkeiten gibt es immer wieder“, erklärt der Student Jorge Muciño. „Ein Auftritt des Sub ist schließlich eine große Reputation für die künftige politische Arbeit.“ Jorge gehört zur „Sicherheitskommission“, einer aus etwa zwanzig Personen zusammengestellten Gruppe aus allen Bundesstaaten, die den Maskierten schützen soll.

Wo also soll der Sub heute Nacht schlafen? Die jungen Männer und Frauen, die hier im Hof der „Gemeinde für sexuelle Diversität“ sitzen, versuchen für ihren Helden ein Nachtlager klar zu machen. Handys klingeln, auf ein paar Fetzen Papier werden Grundrisse von Häusern skizziert. Im Gartenhaus von Jorge? „Das ginge schon“, sagt der, „aber meine Eltern kann ich kaum dazu bewegen, heute Nacht woanders zu schlafen.“

David und Chayote, zwei muskulöse Männer in Shorts und Baseballkappen, schauen skeptisch. Sie sind die Leibwächter des Sub. Auch der Maskierte selbst schüttelt den Kopf. Schließlich hatte die EZLN klare Vorgaben gemacht: drei Schlafzimmer – eins für Marcos, eins für David, eins für Chayote –. Außerdem ein Breitband-Internetanschluss und eine Köchin. Niemand sonst darf Zugang zum Gebäude haben. „Angeblich hat mal jemand die Tür geöffnet, als der Sub vor dem Schlafengehen seine Maske vom Gesicht gezogen hatte“, sagt Student Jorge. So etwas darf nicht passieren, denn die Marcos-Vermummung ist zum Markenzeichen der Bewegung geworden. Nicht nur, weil der Subcomandante seine wahre Identität hinter dem schwarzen Stück Stoff verbirgt. „Wir müssen unsere Gesichter verhüllen, um uns als Unsichtbare Gehör zu verschaffen“, erklären die Zapatisten ihre Kleiderordnung.

Der Gartenhaus-Plan wird also verworfen. Trotzdem kommt Bewegung auf. Vorbei an zwei Punks, die mit Funkgeräten am Eingang des Gebäudes Wache stehen, bewegen sich die Aktivisten auf einen Kleinbus zu, in dem Marcos, David und Chayote verschwinden. Der dunkelviolette Chevrolet prescht los, mit ihm vier vollbesetzte Kleinwagen, die ihre besten Tage hinter sich haben. Zwei Straßenecken weiter schließen sich einige Fahrzeuge der Zivilpolizei an. Soll Marcos verhaftet werden? Er ist schließlich Mexikos berühmtester Guerillero. „Nein, nein“, wiegelt die Studentin Mayra Terrones ab. Selbst Mexikos konservativer Präsident Vicente Fox habe dem Rebellen freies Geleit garantiert, „das Ansehen der Zapatisten ist viel zu gut“, sagt sie.

Die Nacht war ruhig. Der neue Tag beginnt in Tlalnepantla, einer Kleinstadt, die vom Kaktusblätteranbau lebt. 600 Bauern, Hausfrauen und Jugendliche sind zur Plaza Major vor dem Rathaus gekommen. Der Maskierte steht auf der Bühne stramm, er hält die Hand zum militärischen Gruß. Zu ihm gesellen sich acht Männer, die Autoritäten der Gemeinde blicken ernst. „Sie werden uns unser Land nehmen“, sagt einer von ihnen ins Mikrofon und hebt an, über die Regierung zu wettern. Viele hier hoffen, der Auftritt des Zapatisten-Führers könnte in irgendeiner Weise zur Lösung ihres jeweiligen Problems beitragen. „Wenn Gott es will, wird Marcos uns helfen“, erklärt etwa Juana Gonzales, eine ältere Frau.

So will der Subcomandante die „Andere Kampagne“ nicht verstanden wissen. „Wir kämpfen nicht um die Macht“, erklärt er seinen Zuhörern. „Denn es ist nicht nötig, die Welt zu erobern. Es genügt, sie neu zu schaffen.“

Dann spricht er über die zapatistischen Gemeinden, über die Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten, die die EZLN inzwischen aufgebaut hat, unabhängig vom Staat. Und über die „Räte der Guten Regierung“, jene Gremien, die alle wichtigen Entscheidungen in den EZLN-kontrollierten Gebieten treffen. Dieses Konzept der Selbstverwaltung liege auch der „Anderen Kampagne“ zugrunde. Denn „jeder, der oben ankommt, wird sich an uns bereichern“, ruft er den Menschen in Tlalnepantla zu.

Diese Sprache wird hier sofort verstanden. Die Dorfbewohner haben vor drei Jahren die Stadtoberen aus dem Rathaus verjagt, weil sie sich von ihnen betrogen fühlten. Vorbild dafür waren die Zapatisten: sie haben sich ebenfalls von den großen Parteien abgegrenzt. Zwar wird der „Delegierte Null“ seine Reise genau eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen vom 2. Juli beenden – mit dem Wahlkampf wollen die Rebellen jedoch nichts zu tun haben. Auch nicht mit der gemäßigt linken Partei der Demokratischen Revolution PRD und deren aussichtsreichem Kandidaten Andrés Manuel López Obrador. Kaum eine Veranstaltung vergeht, auf der Marcos nicht gegen den PRD-Mann polemisiert.

„Das hat der Kampagne viele Sympathien gekostet“, erklärt Eugenio Bermejillo. Der Journalist arbeitet in indigenen Gemeinderadios und moderiert ein Radioprogramm in Mexiko-Stadt. Er kennt beide Welten. Die Zapatisten, sagt er, fühlten sich von der PRD betrogen, nachdem deren Abgeordnete für ein Indígena-Gesetz gestimmt hatten, das von deren Organisationen mehrheitlich abgelehnt wurde. Dennoch ist Bermejillo skeptisch, was den Einfluss der Zapatisten auf die Geschicke Mexikos angeht. „Viele einflussreiche Gewerkschaften und Campesino-Organisationen sind zurückhaltend. Sie setzen lieber darauf, dass mit einem Präsidenten López Obrador tatsächliche Veränderungen kommen“, erklärt Bermejillo. Auch der Physiker Jorge Cervantes, der mit den Zapatisten sympathisiert, ist vorsichtig optimistisch: „Das Konzept der Selbstverwaltung mag ja für Chiapas taugen“, sagt er, „aber für Mexiko-Stadt bräuchte es beispielsweise komplexere Entwürfe.“

Der „Delegierte Null“ beeindruckt derlei Kritik offenbar wenig. „Jeden Tag sehen wir aufs Neue, dass wir nicht alleine sind“, ruft er seinen Anhängern in Tlalnepantla zu. Kurz darauf steigt er in den alten Chevrolet und lässt die Gemeinde wieder hinter sich. Nun geht es nach Tetela del Monte – etwa eine Autostunde entfernt. Umweltschützer halten das kleine Waldgebiet besetzt, um eine Abholzung zu verhindern, der Besuch des Zapatisten soll der Aktion Rückendeckung verschaffen.

Noch gute sechs Wochen wird der Subcomandante unterwegs sein. Danach soll sich die nächste zapatistische Delegation auf den Weg machen. Allerdings ohne ihren weltbekannten Sprecher. „Das ist auch gut so“, meint Student Jorge. „Es wird höchste Zeit, dass Marcos in den Hintergrund rückt.“

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