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Archiv-Artikel

Das Montagsinterview„Die nerven“

Stefan Warda ist froh, dass Radeln nun salonfähig ist. Da nimmt er auch die Hollandradtussi hin, die über dem Gesetz stehtIM AUTO ODER AUF DEM RAD Fahrradfreundliche Stadt will Hamburg sein – aber das bleibt vorerst ein Lippenbekenntnis. Dennoch machen sich die Sommerradler jetzt wieder auf den Wegen breit. Ein Gespräch mit dem Radexperten Stefan Warda über moralische Überlegenheit, die Bibel des Radverkehrs und die heilige Kuh Autoverkehr

Stefan Warda, 49

■ hat Geographie an der Ruhruni in Bochum und Städtebau an der TU Harburg und an der Columbia-University in New York studiert. Von 1998 bis 2009 war er verkehrspolitischer Sprecher des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrradclub) Hamburg. Seit 2009 hat er ein eigenständiges Büro für Radverkehrskonzepte in Hamburg.

INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Ärgern Sie sich über die Sommerradler, die jetzt aus ihren Löchern kommen, Herr Warda?

Stefan Warda: Ein Stück weit ja. Die nerven, weil sie einfach kreuz und quer total chaotisch rumfahren. Auf der falschen Seite fahren und unbedarft sehr viele Verkehrsregeln missachten.

Ich würde denken, man ärgert sich, weil sie nicht die Mühen des Winters auf sich nehmen und jetzt, wo es bequem ist, wieder dabei sind.

Vor ein paar Tagen, als die Sonne schien, merkte ich, die Stadträder sind wieder alle los. Eine Gruppe Stadtradler fuhr auf den Gehwegen rum und machte mich dabei an: „Du blödes ...“ Denn sie blockierte den Radweg und ich versuchte, vorbeizukommen. Aber das ist auch Hamburg: Die Mehrzahl der Radfahrer sind nicht die Alltagsradfahrer.

Dieses Sich-moralisch-im-Recht-zu-fühlen scheint eine Eigenschaft vieler Radler, nicht nur der Sommerradler zu sein. Oft sind es diese Jungmänner auf Mountainbikes...

Das macht auch die Frau auf dem Hollandrad mit Kindersitz, die sagt, sie müsse ihr Kind zur Schule bringen und deshalb dürfe sie auf dem falschen Radweg fahren. Das ist gar nichts geschlechtsspezifisches. Eine junge Frau meinte sogar, mich anzeigen zu müssen, weil ich nicht auf den Gehweg auswich und Fußgänger gefährdete, als sie mir auf dem viel zu engen Radweg entgegenkam.Haben Sie da auch einen pädagogischen Impetus?

Nach vielen Gesprächen, auch mit Polizisten, habe ich mich entschieden, bei Geisterradlern anzuhalten. Die anderen Radfahrer haben es aber in der Regel eilig und wollen sich gar nicht mit der Konfliktsituation beschäftigen. Sie beschimpfen mich dann. Da sie sich aber in einem definierten Verkehrsraum bewegen, gelten bestimmte Regeln. Denen wollen sie sich jedoch nicht unterordnen. Als Fußgänger muss ich das eigentlich auch nicht und viele Radfahrer begreifen sich eher als Fußgänger, der sich nur etwas schneller fortbewegt.

Das klingt so, als würde der durchschnittliche Radfahrer weniger regelkonform fahren als der durchschnittliche Autofahrer.

Sehr viele Autofahrer in Hamburg fahren erheblich zu schnell. Viele fahren nicht mit der genügenden Aufmerksamkeit, zum Beispiel beim Abbiegen. Radfahrer geben auch kaum Handzeichen, aber ein viele von ihnen meinen, sie seien die Benachteiligten und am schlechtesten im Verkehr gestellt und deswegen dürften sie einige Regeln missachten.

Sind sie nicht tatsächlich am schlechtesten gestellt?

Letztendlich ja. Wo soll der Radfahrer bleiben? Die Autofahrer finden, dass Radfahrer nicht auf die Fahrbahn gehören. Sie wollen sich den Raum, der ihnen angeblich gehört, nicht teilen. Fußgänger laufen häufig auf den Radwegen herum – es ist aber auch schwierig, weil die Gehwege in Hamburg zu eng sind. Wenn der Radfahrer dann klingelt, macht er es dem Fußgänger nicht recht. Wenn man nicht klingelt, macht man es ihm auch nicht recht. Kaum jemand in Politik und Behörden will in Wahrheit, dass der Radverkehr in Hamburg besser gestellt wird.

Ist es für eine Stadt billiger, wenn sich der Anteil der Radfahrer erhöht, weil es den Nahverkehr entlastet?

Alle Investitionen in den öffentlichen Verkehr sind furchtbar teuer. Aber in den großen Städten geht eine Zunahme des Radverkehrs in der Regel nicht zu Lasten des öffentlichen Nahverkehrs, sondern zu Lasten des Autoverkehrs. Man muss aber schon etwas für die Radfahrer tun, sie müssen das Gefühl haben, dass man sich um sie kümmert und es sich lohnt, Rad zu fahren, weil es bequem ist und schneller als der Nahverkehr oder das Auto.

Wie kamen Sie zum Lebensgefühl: Ich bin ein Radfahrer?

Ich habe mit sieben Jahren mein erstes Fahrrad bekommen, ein 26er Herrenrad, mit neun den Fahrradführerschein gemacht. Ich durfte schon mit 13 Jahren von Hagen bis ins Ruhrgebiet fahren und meine Oma in Wattenscheid besuchen, das sind 60 Kilometer. Als ich 18 war, habe ich den Führerschein gemacht, das Geld hat mir eine Oma geschenkt und ich habe mir dann kein Auto gekauft, sondern ein neues tolles Rennrad.

Hat Rad fahren für Sie, auch als späterer Sprecher des ADFC, eine politische Dimension?

Ich war früher nicht radverkehrspolitisch engagiert, ich war passives Mitglied in verschiedenen Umweltverbänden. Als ich in Hamburg in einem Stadtplanungsbüro arbeitete, bekam ich die Regelwerke mit, die Plast, diese Bibel für Radverkehr.

Plast?

„Planungshinweise für die Anlage von Stadtstraßen“, Teil neun, „Anlagen des Radverkehrs“. Da las ich dann, dass das Schild „Radfahrer absteigen“ nicht mehr zulässig ist. Damals sah ich an einer Baustelle am Jungfernstieg überall genau diese Schilder und dachte: Jetzt rufe ich mal bei diesem ADFC an. Die haben mich eingeladen und so kam ich zur Radverkehrspolitik.

Trotz allem steigt der Anteil der Radfahrer auch in Hamburg. Nicht so stark wie angepeilt, aber immerhin.

Die Leute sind schon aufgeklärter. In Städten in Deutschland, in denen viele gebildete Menschen leben, ist es kein Problem, wenn man Rad fährt. Man kann Arzt sein oder Immobilienmakler und trotzdem Fahrrad fahren, man muss sich dafür nicht schämen. In Stadtteilen, wo das Bildungsniveau sehr gering ist, identifiziert man sich mit dem Auto als Statussymbol, obwohl das sehr teuer ist.

Sie sagen: Wer Rad fahren will, muss selbstbewusst sein. Ist Rad fahren eine Schule des Charakters?

Der Radfahrer ist sehr verletzlich und er verliert immer gegenüber dem Autofahrer. Von daher geht es unter Umständen um Leben und Tod. Der Radfahrer sollte immer seine Grenzen kennen. Aber zugleich darf man keine Angst haben, denn sonst gefährdet man sich selbst und andere. Das bedeutet dann zum Beispiel genügend Abstand zu parkenden Autos einhalten und etwas mehr zur Fahrbahnmitte hin fahren.

Warum ist Rad fahren in deutschen Städten selbstverständlicher als etwa in französischen oder südeuropäischen?

Es gab in der Jugendbewegung neben den Turnvereinen auch Fahrradvereine. Dadurch wurden Radwege gebaut und die Fahrradindustrie hat sich hier früh etabliert. Hamburg soll in den 30er Jahren gleichauf mit Kopenhagen gewesen sein, was die Fahrradinfrastruktur betraf.

Wer fuhr damals Fahrrad? Die Armen oder die Reichen?

Als im vorletzten Jahrhundert die ersten Hochräder gebaut wurden, war das etwas für Adel und wohlhabendes Bürgertum. Als die Räder erschwinglich wurden und es nicht mehr nur Hochräder gab, sondern auch den Diamant-Rahmen, wurde das Rad zu etwas ganz Wertvollem für den Arbeiterhaushalt.

Und wann fiel Hamburg hinter Kopenhagen zurück?

Nach dem Krieg haben die meisten Städte in Deutschland den Wiederaufbau dazu genutzt, Tabula rasa zu machen. In Hamburg ist nach dem Krieg mehr Wohnbaufläche für die Verbreiterung von Straßen zerstört worden als im Krieg. Das Leitbild der autogerechten Stadt hat man so schnell verwirklicht – was Länder mit kaum zerstörten Städten nicht konnten. Die breiten Radwege in Kopenhagen gab es schon vor dem Krieg und sie sind danach auch so breit geblieben – in Hamburg hat man nicht mehr damit gerechnet, dass der Radverkehr so eine große Rolle spielen würde. Ende der 60er Jahre gab es einen Senatsbeschluss, dass Radwege nur noch einen Meter breit sein sollen. Viele der breiten Radwege, die früher 1,80 Meter breit waren, wurden zu Parkplätzen umfunktioniert.

Um Radfahrer abzuschrecken?

Man hat insgesamt die Infrastruktur so angepasst, das der Autoverkehr sich dominant entwickeln konnte. Dadurch, dass viel Wohnbaufläche in der Innenstadt zerstört wurde, sind die Wege zur Arbeit und zum Einkaufen immer länger geworden.

Zum Schluss noch die Gretchenfrage: Fahren Sie mit Helm?

Nein, der schützt mich nicht vor Unfällen. Mich schützt meine defensive Fahrweise.

Aber wenn man einen Unfall hat, verhindert der Helm Schlimmeres.

Ich hatte mir einmal einen gekauft, nachdem mich eine Autofahrerin bei Grün an einer Ampel übersehen hatte. Was uns viel mehr schützen würde, wäre ein langsamerer Autoverkehr in den Städten. Das bringt auch mehr Lebensqualität. Straße ist nicht nur Verkehrs-, sondern auch Lebensraum, um stehen zu bleiben, zu sitzen und sich zu unterhalten.