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Archiv-Artikel

Anarchist Micky

GLÜCKWUNSCH Die Comicmaus wird 85. Sie gilt als braver Gesell, dabei begann ihr Leben ganz anders

Ohne das Eingreifen einer Frau wäre Mickey Mouse vielleicht nicht der bekannteste Nager der Welt geworden. Walt Disneys erster Chefzeichner Ub Iwerks, Sohn eines ostfriesischen Einwanderers, bekam 1928 die Aufgabe, eine neue Trickfigur zu kreieren, weil Disney die Rechte an seiner erfolgreichen Serie „Oswald the Lucky Rabbit“ verloren hatte. Heraus kam dabei die Maus „Mortimer“, die sich vom Hasen Oswald nur in Ohren- und Schwanzlänge unterschied. Disneys Frau Lilian mochte den Namen nicht und schlug Mickey vor – der Grundstein zur Disney-Erfolgsstory war gelegt.

Die ersten zwei Stummfilme mit dem Mäuserich, der auf Deutsch Micky Maus heißt, hoben sich aber trotz vieler witziger Einfälle kaum von der Konkurrenz ab. Doch Walt Disney hatte die richtige Nase für gewinnträchtige technische Neuerungen und produzierte den dritten Micky-Cartoon, „Steamboat Willie“, als Tonfilm. Am 18. 11. 1928, heute vor 85 Jahren, wurde er im New Yorker Colony Theatre uraufgeführt. Und schlug ein wie eine Bombe.

Musik und Animation waren erstmals perfekt aufeinander abgestimmt und boten so mitten im Jazz Age ein vollkommen neuartiges Vergnügen. Gleich zu Beginn pfiff Steuermann Micky lippensynchron eine flotte Melodie, die gummiartigen Glieder wippten im Takt. Jeder Gegenstand an Bord des Dampfers wurde von Micky in ein Musikinstrument verwandelt. Um den besten Sound zu erhalten, zog er eine Katze am Schwanz und spielte auf den Zähnen eines Flusspferds Xylofon.

Nach dem Erfolg dieser überdrehten Jam Session wurden alle Disney-Cartoons dieser Ära temporeiche Musicclips. Sie waren noch schwarz-weiß und roh gezeichnet, fern von jener naturalistischen Animationstechnik, die Disney Mitte der dreißiger Jahre entwickeln sollte. Ein Dackel konnte als Antrieb eines Flugzeugs dienen, der Unterrock der Mäusin Minnie als Fallschirm. Physikalische Gesetze wurden durch den surrealen, brutal-frivolen Slapstick der Animation ausgehebelt. Hauptsache, das Tempo stimmte.

Micky war ein frecher, anarchischer Charakter, ein Lebenskünstler voller Ideen, aber mittellos. Wie der Großteil seines Publikums hielt er sich zur Zeit der Wirtschaftskrise mit prekären Jobs über Wasser, etwa als Verkäufer von Würstchen, die ihm vom Grill hüpften …

1930 bekam Micky seinen eigenen Comicstrip. Vor allem Zeichner Floyd Gottfredson hauchte Micky eine Seele ein, erzählte zeitlose Abenteuergeschichten mit ihm als Helden. In dem Film „Fantasia“ hatte Micky seinen größten Auftritt als Zauberlehrling. Ab den 40er Jahren wurden Figuren wie Donald Duck und Goofy beliebter, Micky wurde in Hochwasserhosen gesteckt und mutierte in US-Comic-Heften zur biederen Maus ohne Eigenschaften.

In Europa erfreuten sich die Micky-Comics größerer Beliebtheit und wurden von Zeichnern wie Romano Scarpa geprägt und weiterentwickelt. In den letzten Jahren besann sich der Disney-Konzern seiner Anfänge, ließ Micky wieder in die Knopfhose schlüpfen und richtige Abenteuer erleben.

In dem 2010 erschienenen Videospiel „Micky Epic“ schließt sich der Kreis: Micky trifft darin auf den Hasen Oswald.

RALPH TROMMER