Mit dem Reisepass ans Elterngrab

In Serbien hält man die Montenegriner für „Brüder“ und sieht die Teilung daher als historische Dummheit. Diskutiert werden aber auch die konkreten Folgen einer Teilung

BELGRAD taz ■ „Sagt Nein zu dieser sinnlosen Unabhängigkeit!“ So lautet der Appell montenegrinischer Heimatverbände in Serbien an ihre Verwandten und Freunde in Montenegro. Kurz vor dem Referendum in Montenegro über die Unabhängigkeit des Landes von Serbien am Sonntag herrscht bei den rund 260.000 in Serbien lebenden Montenegrinern Ausnahmezustand. Für die einen ist es schlicht unvorstellbar, dass serbische und montenegrinische „Brüder“ durch eine Staatsgrenze getrennt werden. Andere befürchten, nach einer Selbstständigkeit Montenegros in Serbien als Ausländer behandelt zu werden.

Doch die meisten Montenegriner in Serbien sind zur Untätigkeit verdammt. Denn nur wer das Wahlrecht in Montenegro hat, darf bei dem Referendum seine Stimme abgeben. In Serbien sind das nur wenige – hauptsächlich Studenten.

Diese Regelung, die die Europäische Union als Organisator des Referendums getroffen hat, bezeichnen serbische Akademiker montenegrinischer Herkunft unisono als einen beschämenden Präzedenzfall. Es sei eine historische Ungerechtigkeit, dass Staatsbürger eines Landes über dessen Status nicht mitentscheiden dürften, ist bei zahlreichen Veranstaltungen in Belgrad zu hören. Zumal es sich fast um die Hälfte aller Montenegriner handele. Serbiens Premier, Vojislav Kostunića, setzt sich energisch für die Staatengemeinschaft aus Serbien und Montenegro ein. Ebenso Staatspräsident Boris Tadić, der selbst montenegrinischer Herkunft ist.

„Die Unabhängigkeit Montenegros wäre absurd und stünde im Gegensatz zur gesamten Geschichte des serbischen Volkes in Montenegro“, erklärt Professor Ljubomir Tadić, Vater des serbischen Präsidenten und Vorsitzender des Verbandes der in Serbien lebenden Montenegriner. Auch der berühmte Dichter Matija Becković spricht von einem Versuch, das Untrennbare zu trennen. „Eine Grenze zwischen Serbien und Montenegro würde mitten durch mein Haus verlaufen“, sagte er zur taz. Ein unabhängiges Montenegro wäre der „antiserbischste“ von allen aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangenen Staaten, denn nur durch eine antiserbische Politik könnte die montenegrinische Staatsführung die Trennung von Serbien begründen. Die Sezessionisten hätten eine tiefe Spaltung im Volk verursacht, ganze Familien und Freunde entzweit und künstliche Feindschaften geschaffen.

Als besonders unverzeihlich bezeichnen montenegrinische Intellektuelle, die von der historischen Einheit der beiden Völker ausgehen, die Tatsache, dass nationale Minderheiten, vor allem die Albaner, das Zünglein an der Wage für die Unabhängigkeit sein könnten. Die Minderheiten der Bosniaken, Albaner, Muslime und Kroaten machen etwa ein Drittel der Bevölkerung in Montenegro aus.

„Ich kann mir nicht vorstellen, mit einem Reisepass die Gräber meiner Eltern, meiner Schwester und meines Bruders in Montenegro besuchen zu müssen“, sagt Novak Brković, der Ende der Siebzigerjahre jugoslawischer Generalkonsul in Salzburg war. Den Beteuerungen der montenegrinischen Behörden, dass es einen freien Grenzverkehr mit Serbien geben werde, schenkt er keinen Glauben. Die Unabhängigkeit hält er für eine „gewöhnliche, historisch unbegründete Dummheit“.

Im Schatten der leidenschaftlichen Feindseligkeit zwischen „Unionisten“ und „Sezessionisten“ stehen pragmatische Fragen. Dazu gehören etwa die Gültigkeit von Kranken- und Sozialversicherung oder Studiengebühren, die man im jeweils anderen Land zu zahlen hätte. „Ich habe die montenegrinische Staatsbürgerschaft, aber kein Wahlrecht in Montenegro“, sagt der in Belgrad geborene und dort lebende Stanko Brković. Niemand sagt ihm, wie sein Status künftig geregelt werden soll. Belgrad lehnte bisher jegliche Gespräche über die Lösung technischer Frage mit Podgorica ab. So als ob die Unabhängigkeit Montenegros völlig unvorstellbar sei.

ANDREJ IVANJI